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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

regungslos. Der gesenkte Blick des Geistlichen hob sich, wie von einer fremden Gewalt gezwungen, und seine Augen, über denen es wie ein Flor lag, sahen in das entfärbte Gesicht des andern. Dann tastete Reginalds Hand unsicher nach seinem auf der Tischplatte liegenden Hut, und er machte eine Bewegung, als wollte er sich zum Gehen wenden.

Da hielt ihn Delmont zurück und fragte mit heiserer, stockender Stimme:

„Er hat Ihnen – hat Ihnen Beichte abgelegt?“ Und, da Reginald stumm blieb, drückte er die geballte Faust auf den Tisch und sagte gebieterisch: „Sie müssen mir das sagen – ich muß es wissen – vielmehr, ich weiß es schon – ich lese es Ihnen ja vom Gesicht herunter …“

Reginald wollte erwidern, aber er brachte kein einziges Wort heraus – was hätte er auch sagen sollen? Er wisse von nichts, Schönfeld habe ihm nicht gebeichtet? Eine offenbare Lüge – er – ein Geistlicher! Und Delmont würde sie ihm keine Minute lang geglaubt haben!

„Daß er meinen Namen ausgesprochen hat!“ vollendeten nach einer Weile flüsternd Delmonts Lippen.

„Er ist ihm wider Willen am Ende seiner Erzählung entschlüpft; er hatte keine Ahnung, daß ich Sie kannte!“ Reginald sprach mit großer Anstrengung.

„Ich glaube es! Er war mir ein treuer, ergebener Freund und ein Mann von Charakter, was auch das Leben und die Verhältnisse später aus ihm gemacht haben! Also hingerichtet!“ Ein Schauer fuhr ihm durch die Glieder. „Und er hat Ihnen alles gesagt – alles – wie es gekommen ist?“

„Nun – und Sie?“

„Ich?“ Der Geistliche richtete sich straff empor. „Ich bin in einen schweren Konflikt mit mir selbst gerathen – Sie werden sich vielleicht vorstellen können … nun, wie dem auch sei: ich habe beschlossen, zu schweigen. Hatten Sie es anders von mir erwartet?“

Ueber Delmonts Züge ging ein Zucken, als er stumm den Kopf schüttelte.

„Ein schwerer Entschluß!“ sagte er endlich wie für sich.

„Gott wird mir verzeihen – ich kann nicht anders handeln!“

„Das meinte ich jetzt nicht – ich dachte an mich selbst!“

„An Sie – warum – was –“

„An den Entschluß, den ich zu fassen habe!“

„Ums Himmels willen – Sie könnten – nur weil ich – Gott weiß es, ohne mein Zuthun! – Ihr Geheimniß erfuhr? Ich bin der einzige lebende Mensch, der darum weiß, und wenn ich Ihnen bei meinem Eid als Priester, bei meinem Wort als Mann, bei meiner Ehre schwöre, nie mit einem Hauch, nie mit einer Miene, gegen wen es auch sei –“

Delmont hob beschwichtigend die Hand.

„Dessen bedürfte es nicht – ein einfaches Wort von Ihnen würde mir genügen. Nicht Ihre Mitwissenschaft ist es“ … er schöpfte tief Athem – dann, nach einer langen Pause: „Es war eine That heißer, jugendlich zorniger Leidenschaft, und nach menschlichem Maßstab kann sie kaum noch an mir gestraft werden. Es war ein schlechter, bösartiger Mensch, gegen den ich meine Hand erhob – gleichviel – es war ein Mord! Glauben Sie, daß ein Mädchen, und wenn es einen Mann noch so innig liebt, ihm ruhig zum Altar folgen möchte, wenn es wüßte, dieser Mann hat gemordet?“

„Ich meiß es nicht! Wenn der Mann nicht den Muth hat, ihr, die sein Alles werden soll, sein besseres Ich, vertrauensvoll sein ganzes Leben klar zu legen, sich offen zu seiner Schuld zu bekennen –“

„Niemals!“ unterbrach Delmont den Redenden hastig. „Ich habe mit mir gekämpft, gerungen – umsonst! Ich weiß es, sie würde sich mit eiserner Kraft beherrschen, aber sie würde nie aufhören, innerlich vor mir zurückzuschaudern – sie – vor mir! Und so muß ich denn mein ganzes Lebensglück und das ihre, unsere Ehe und unsere Stellung vor der Welt auf einer Lüge aufbauen … oder …“ er vollendete nicht, aber er erbleichte bis in die Lippen hinein.

„Nicht so!“ sagte Reginald sanft. „Sie sind in Aufregung jetzt, und wer möchte es Ihnen verdenken? Aber ich bitte, bedenken Sie nur: bisher war Ihr Geheimniß im Besitz eines Menschen, bei dem Sie es sicher aufgehoben wußten; er ist jetzt todt, und das Geheimniß hat den Besitzer gewechselt, die Sicherheit aber ist genau dieselbe. Sie haben bisher oft mit Zweifeln und Bedenken gekämpft und manche schwere Stunde gehabt, ich glaube es Ihnen – Sie werden das auch in Zukunft müssen, es kann Ihnen nicht erspart bleiben – aber Ihre Lage hat sich in nichts geändert.“

Der Künstler lächelte bitter.

„Doch! Sie hat sich geändert! Der Verstorbene war mein Freund, er verdankte mir viel, er hing mit feuriger Liebe an mir – falsch und verächtlich hätte er an seinem liebsten und einzigen Jugendfreunde gehandelt, wenn er mich verrathen haben würde. Ihr Schweigen würde ein ebenso unverbrüchliches sein wie das seine, das weiß ich gewiß, es bedarf dazu keines Eides – was mich aber dort kaum ängstige, weil ich es unbedenklich als etwas Selbstverständliches entgegennahm, das würde mich hier zu Boden drücken. Ich dachte selten mehr an Schönfeld; ich hatte einmal flüchtig gehört, er habe sich in anarchistische Bestrebungen eingelassen, dann war seit langen Jahren alles über ihn verstummt, ich war auf Reisen, deutsche Zeitungen kamen mir selten zu Gesicht – ich dachte zuweilen, er müsse schon lange todt sein. Nicht, daß ich einen Mitwisser bei meiner That gehabt, beunruhigte mein Gewissen … die That selbst war es, die immer wieder in mir aufstand, mich marterte und peinigte, und niemals qualvoller, als wenn ich bei meiner Braut gewesen war. Mit tausend Stimmen schrie es in mir: wie darfst Du es wagen, dies ahnungslose, engelreine Geschöpf an Dein Herz zu drücken, und bist doch des Mordes schuldig? Nur in ihrer Nähe lassen die Furien mich los – mit hundertfacher Gewalt fallen sie mich an, wenn ich sie nicht bei mir habe! – Und jetzt – zu wissen, zu denken: der Mann, der ihrer unsagbar viel würdiger ist als du – der Mann, der sie liebt aus ganzer Seele, den sie wieder lieben würde, wärest du nicht - der ihr ein ungetrübt glückliches, sonnenhelles Los bereiten würde, wie es ihr, dem sonnigen Geschöpf, einzig zukäme … gerade dieser eine Mann, und kein anderer, weiß um deine dunkle That – er schweigt aus Seelengröße, aus Edelmuth – aber er weiß darum … und wenn er fortginge aus Deutschland, und wenn du selbst fliehen wolltest bis ans Ende der Welt: er weiß darum! – Glauben Sie nicht, daß ein solches Bewußtsein ein Leben, das ohnehin von Qual und Reue und Gewissenspein halb zerstört ist, unheilbar vergiften kann?“

Wieder ein tiefes, bedrücktes Schweigen. Nur ein kleiner Fink, der im Lindenwipfel sein Nest hat, sitzt auf einem schwankenden Zweiglein und schlägt aus heller Kehle in den schönen Sommertag hinein, und von fern hört man ein paar Kinder, die sich am andern Ende des Gartens haschen, lustig auflachen.

Endlich sagt Reginalds tiefe, sonore Stimme:

„Sie denken an sich selbst – Sie sprechen von sich selbst – aber sie – Annie!“

In den düstern Augen des Malers nachtet es, und seine Brust hebt sich wie im Krampf.

„Eben weil ich an sie denke …“ hebt er an, bricht aber plötzlich und unvermittelt ab.

„Sie hören noch von mir!“ Er greift nach Reginalds Hand, preßt sie, daß es schmerzt, und eilt hastig, ohne zu grüßen, ohne umzublicken, dem Ausgang zu. –




16.

„Ich möchte doch wissen, was das mit Karl ist!“ bemerkt Annie Gerold gedankenvoll und wickelt ein buntes Seidensträhnchen, mit dem sie gerade ein stilvolles Muster in einen Tischläufer zu nähen begonnen hat, um ihre schönen Hände. „Du wirst nun sagen, Thea, daß ich Dir das im Laufe der letzten Tage mindestens schon hundertmal anzuhören gegeben habe, und daß es nichts weniger als geistreich ist, unaufhörlich über Dinge zu reden, über die man keine Gewalt hat und die man aus eigener Machtvollkommenheit nicht wandeln kann – aber ich kann es nicht ändern!“

Nein, Thekla sagt nichts dergleichen. Sie sitzt in ihrem Lehnstuhl, hat heute einen ausnahmsweise guten Tag und kränkt sich, daß das Vögelchen, so auserkoren zum Glück, nun schon mehrere schlechte Tage zu verzeichnen hat. Draußen fällt ein

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 875. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_875.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)