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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Auf dem viereckigen, rings von hohen Brandmauern umgebenen Hof des Arresthauses wurden noch zuweilen Rekruten exerziert – außerdem aber hatte dieser Hof noch eine andere Bestimmung: die in F. vorkommenden Hinrichtungen wurden hier vollzogen.

Lautlos und in aller Frühe schon waren die nothwendigen Vorbereitungen getroffen worden. Selbst die bekanntesten Frühaufsteher der zweiten Hofgasse hätten nicht die kleinste Veränderung wahrzunehmen vermocht: alles sah ganz so aus wie sonst … und wäre auch einigen der dort wohnenden Leute eine Ahnung des Sachverhalts aufgestiegen – das schwere, eisenbeschlagene Thor war fest verschlossen und wies weder Spalte noch Oeffnung auf. Die Neugier wäre also hier ganz vergebens gewesen.

„Klipp-klapp! Klipp-klapp!“ machte der Schleppsäbel in taktmäßiger Bewegung auf dem Steinpflaster – was hatte der hübsche Lieutenant so ernst auszusehen und sich immer wieder so nachdenklich den kleinen Bart zu drehen? –

Neun Uhr! Die Uhr der altersgrauen Nikolaikrche sagte mit ihrer heisern, hohlen Stimme die Stunden her, und der Offizier fuhr zusammen und blieb zum ersten Male während seiner Wanderschaft stehen; es war, als lauschte er, – aber die Thorflügel waren massiv und ließen keinen Laut durch. „Klipp-klapp!“ begann der Säbel von neuem seine Musik auf dem Straßenpflaster.

Die Hausfrauen und Mädchen hörten allgemach auf, aus den Fenstern zu sehen – sie hatten alle zu thun. Die einen gingen auf den Fisch- und Gemüsemarkt in der Nähe, die andern trafen schon Vorbereitungen zum Essen oder warteten ihre kleinen Kinder; es nahm sich kaum eine von ihnen die Zeit, wieder einmal, inmitten der Arbeit, nach dem Ulanen zu sehen: ja – er war immer noch da! –

Ein frischer, leuchtender Sommermorgen – der Himmel mit kleinen, weißflockigen Wölkchen leicht überflogen, die Sonne warm und mild, aber nicht stechend – selbst die kümmerlichen Fleckchen Erde, die hier und da in der zweiten Hofgasse einen „Garten“ vorstellen sollten, grünten lustig, und ein kleiner Dompfaff, der in einem hölzernen Bäuerchen am offenen Fenster hing, pfiff wohlgemuth „Freut euch des Lebens“, brach aber immer in der Hälfte des Liedes ab und begann es unverdrossen von neuem.

Es mochte gegen halb Zehn sein, als sich die schweren Thorflügel knarrend in ihren Angeln drehten: eine Abtheilung Gendarmerie ward sichtbar, welche die Straße entlang marschirte – dahinter kamen einige Herren, die stumm nebeneinander hergingen; hinter ihnen wurde das Thor sorgfältig wieder geschlossen.

„Reginald!“ sagte der Offizier leise und legte einem der Herren die Hand auf den Arm.

„Du, Fritz! Wie kommst Du hierher?“

„Ich – nun, ich wußte ja doch – und so kam ich, Dich abzuholen, und kann bis Mittag mit Dir zusammenbleiben. Ich habe mich vom Dienst für heute frei gemacht.“

„Das ist sehr liebenswürdig von Dir! Darf ich die Herren mit meinem Vetter, Lieutenant von Conventius, bekannt machen?“

Die Herren – der Bürgermeister, ein Polizeirath, ein Regierungsbeamter und Direktor Warnow – zogen die Hüte, ein paar Wechselreden gingen hin und her, doch war niemand zum Plaudern aufgelegt, und am Ende der zweiten Hofgasse trennte man sich.

Die beiden Vettern gingen mit einander weiter. Fritz sah seinen Begleiter zuweilen besorgt von der Seite an. Was hatte Reginald nur? Es konnte kein gewöhnliches Ereigniß, es konnte auch nicht die doch längst erwartete Hinrichtung gewesen sein, die diesen kraftvollen, stählernen Charakter so tief erschütterte – der ganze Mann sah gänzlich verändert aus, er war kaum wiederzuerkennen. Als wenn eine schwere Last ihn niederdrücke, eine Schuld ihn beschwere, so ging er einher.

„Du hast doch jetzt Zeit, lieber Alter, um mit mir zu kommen?“ begann der Lieutenant, indem er seinen Arm vertraulich unter den des Vetters schob.

„Zeit? Jetzt? O ja! Das schon – aber wohin willst Du denn eigentlich mit mir?“

„Dahin, ‚wo man einen Guten schenkt‘, Freundchen! Ich weiß ein stilles, kühles, grünes Gärtchen, nicht allzu weit von hier, ein ganz neues Etablissement, allwo der Wirth sich angenehmer Getränke und einer stilgerechten Bedienung – weiblichen Geschlechts – befleißigt … na, mach’ nur nicht gleich Augen, geistlicher Herr! Ich liebe mein Mäuschen wahrhaftig – aber soll ich mich nun darum nie mehr weiblich bedienen lassen?“

Reginald ließ diese tiefe Frage unerörtert.

„Ehrlich gestanden, Fritz, ich verspüre keine große Lust, mich jetzt und heute in einen öffentlichen Garten hinzusetzen, mitten in ein Gewühl lustiger, plaudernder Menschen –“

„Du hast mir nicht zugehört, lieber Alter, sonst würdest Du so nicht reden! Ich sprach von einem kühlen, grünen, stillen Gärtchen! Wohlgemerkt: von einem stillen! Das ist’s ja eben! Ein neues, von mir zufällig entdecktes Lokälchen, in dem noch wenig oder gar kein Verkehr herrscht – zumal um diese Zeit, Ich wette, daß das ‚Gewühl plaudernder Menschen‘, dessen Du eben erwähntest, aus uns zweien bestehen wird – nun, und das hat gerade nichts Beängstigendes! Du kannst Dir da alles vom Herzen heruntersprechen, gerade als säßest Du zwischen Deinen vier Wänden – kannst mir, wenn Du willst, von Deinem armen Sünder berichten -“

„Verzeih’ mir – nein, das kann ich nicht! Später einmal vielleicht! Du hast auch schon sterben gesehen, ich weiß es, aber es ist ein anderes Ding, ob jemand friedlich in seinem Bett stirbt oder auf dem Schlachtfelde fällt, oder ob er gewaltsam durch den Arm der Gerechtigkeit aus dem Leben geschafft wird! Mich hat es hart angegriffen, und ich werde den Eindruck lange, lange Zeit mit mir herumtragen, das fühle ich! Gesteh’ es ehrlich, Fritz, ich bin ein trauriger Gesellschafter heut’ für Dich; Du solltest mich mir selbst überlassen!“

„Daß doch auch gescheite Leute offenbaren Unsinn schwatzen können! Gesellschafter! Als ob es mir darum zu thun wäre! Wenn Du mich nicht fortschickst …“

„Das nicht! Aber Du mußt mir nicht böse sein, wenn ich so gut wie nichts zur Unterhaltung beitrage.“

„Schon wieder! Unterhaltung! Wer in aller Welt verlangt denn das von Dir? Seit wann kommen wir beide uns mit höflichen Redensarten? Von Dir verbitte ich mir dergleichen geradezu – verstanden? Böse sein! Ich möchte wohl wissen, was Du anstellen müßtest, damit ich Dir böse sei! Basta! Alleinsein ist jetzt ein gefährliches Gift für Dich, daher wirst Du mich sobald nicht los, und solltest Du mich auch in der Stille dafür zu allen Teufeln wünschen!“

„Das wäre nun für mich wirklich ein ungeheuer passender Wunsch!“

„Pardon! Du hast recht! Ich muß mir am Ende wirklich das Fluchen abgewöhnen – Mäuschen und Schwiegermama sind auch nicht entzückt davon. Hör’, Mensch, die Schwiegermama hat mir gestern ein Cigarrenetui ihres Seligen geschenkt, echt vergoldet, von feinster Arbeit – feudal! Dieser gute Mann muß einen ausgesuchten Geschmack besessen haben, seine Witwe zeigte mir noch viel mehr solche feine Kostbarkeiten und ließ die angenehme Aussicht durchschimmern, daß ich allmählich die ganze Hinterlassenschaft antreten würde. Was sollte sie auch damit? In Ehren werde ich die Sachen schon halten – und sie kann sie ohnehin nicht brauchen, denn die wackere Dame raucht nicht!“

Unter solchem Geplauder führte Fritz den Vetter durch verschiedene Straßen, bis sie endlich vor einem hübschen, weißgetünchten Hause Halt machten, das neben einem Garteneingang mit der Inschrift „Gartenwirthschaft“ belegen war.

„Hier gehören wir her“ – der Lieutenant öffnete die hohe Gitterthür und steuerte geradeswegs auf eine schöne, schattige Baumgruppe los, unter welcher eine Anzahl gefällig gebauter Gartenmöbel stand. „Nun, verhält sich’s nicht, wie ich Dir prophezeit hatte: ‚leergebrannt ist die Stätte‘ – da hinten wimmeln ein paar nebelhafte Formen herum, die gehen uns aber nicht das mindeste an. Zenzi – Zenzi – liebliche Maid! – Du mußt wissen, hier giebt’s echtes Münchener Bier und echte Münchener Mädchen in Riegelhauben dazu – angenehm für Geschmack und Auge. Siehst Du, da ist sie!“

Ein zierliches junges Mädchen mit einem frischen Gesicht, dem das Riegelhäubchen allerliebst stand, kam auf Fritzens Ruf wie ein flinkes Bachstelzchen einhergetrippelt und fragte mit einem Knix, was denn die Herren haben möchten.

„Zunächst eine Patschhand, Zenzi! Und dann bringst Du zwei Franziskanerbräu und ein paar Rettige – Radi, Du weißt’s schon! – mit Salz und Butter – ich hab’ einen rechtschaffenen Hunger!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 871. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_871.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)