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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

war,“ entgegnete die andere Stimme, „er hatte das Recht nicht, den alten Mann zu tödten! Gott allein hat zu entscheiden über Leben und Tod, wenn die irdische Gerechtigkeit machtlos ist, den Missethäter zu strafen! Eine Mördergrube würde die Welt werden, wenn jeder nach eigenem Gutdünken sich Recht und Gerechtigkeit verschaffen wollte! Du weißt das genau – hast du es nicht selbst vor kurzem noch dem zum Tode Verurtheilten gesagt, als er trotzig schwor, eine gute That begangen zu haben, indem er ein gemeinschädliches Dasein vernichtete? Liegt denn dieser Fall anders? Und du willst ein Diener Gottes sein, den Menschen den Spruch auslegen: die Rache ist mein – ich will vergelten, spricht der Herr! – und handelst deinen eigenen Worten zuwider? Ob verjährt, ob nicht – ob nach menschlichem Ermessen strafbar oder entschuldigt – es ist deine Gewissenspflicht, zu bekennen, daß du um diesen Mord weißt, entstehe daraus, was da wolle!“ –

Reginald trat verstört vom Fenster zurück und sah sich im Zimmer um – ganz deutlich war ihm gewesen, als höre er eine mahnende Stimme laut zu ihm sprechen! Aber es war niemand da, nur ein leiser Nachtwind machte sich auf und hielt ein raunendes Flüstergespräch mit den Bäumen, die in dem unter seinem Schlafzimmer gelegenen Garten standen. Jetzt waren sie wieder regungslos, und über die schlafende Welt kam tiefer Gottesfrieden. –

„Ich kann nicht – ich kann nicht!“ begann sein stürmisch klopfendes Herz zu sprechen. „Ist es nicht Annie Gerolds Lebensglück, um das es sich handelt? Und ich soll hingehen und ihr’s vernichten mit grausamer Hand und zusehen, wie sie sich an ihrem Gram verblutet? – Und wenn sie dir noch ein fremdes, gleichgültiges Geschöpf wäre, und du hättest nur ihre Schönheit bewundert! Aber du liebst sie … du liebst sie! Und eben weil du sie liebst, kennst du auch ihre Seele – die Seele, die zu dir sprach an dem Abend, da du sie zum ersten Mal sahst und ihre herrlichen, lieben Augen dir von ihrem Herzen erzählten, dem feurig empfindenden, zärtlichen, weichen! Du könntest dies geliebte Leben schützen, und du wolltest es nicht? Nein, was du auch thust – Annie Gerold darf es nie erfahren, daß der Mann, den sie liebt, ein Verbrechen begangen hat!“ –

„Wohl! Nicht durch dich soll sie es erfahren, – wird es ihr dadurch aber auf ewige Zeiten verborgen bleiben? Gottes Mühlen mahlen langsam, du hast es oft genug schon erlebt! Wer hieß dich gerade hierher an die Kirche zu Sankt Lukas kommen – wer führte dich in den ersten Wochen schon mit dem Mädchen zusammen, das du lieben solltest – wer fügte es, daß unter den deiner Seelsorge anvertrauten Gefangenen gerade Schönfeld war, Schönfeld, der bei der ersten Begegnung schon ein unerklärliches Interesse in dir erweckte, daß du dir heilig gelobtest, diese Seele zu gewinnen um jeden Preis? Und da du sie gewonnen hattest – wer zwang ihn, dir gerade jenes Erlebniß aus seiner Jugendzeit zu schildern, welches das Lebensglück dreier Menschen – denn auch das deinige steht auf dem Spiel! – in sich begreift? Du sprichst zu deiner Gemeinde so oft und überzeugungstreu von wunderbarer göttlicher Fügung, und du willst übersehen, daß an dir sich die allerwunderbarste vollzogen hat?“

„Nein – nicht übersehen! Es ist möglich, daß Annie Gerold auf anderem Wege, daß sie es in jäher, grausamer Weise, daß sie es zu spät erfährt, wer ihr Geliebter ist, welche That er begangen hat … durch mich soll sie es nicht hören! Ich kann es nicht! Ihn hat ihr Herz sich erwählt vor vielen andern, und ich habe es nicht hindern können – ich werde es auch nicht hindern, daß sie aus seiner Braut seine Gattin wird!“

„Und dein Gewissen? – Wird es dich nicht Lügen strafen auf der Kanzel – am Altar, von wo du deines Gottes Wort verkündigst? Als Mensch übst du Selbstverleugnung und Großmuth, indem du schweigst – – als Priester wirst du dir selber untreu, wenn du andern predigst: Gott über alles! Was hülfe es, wenn Ihr die ganze Welt gewännet, und nähmet doch Schaden an Eurer Seele? Gebt Gott, was Gottes ist! – – Wer ist der stärkere in dir: der Mensch, der nach Menschenmaß richtet und verfährt – oder der Diener des Höchsten, der alles, was er thut, in seinem Namen vollbringt?“ –

„Aber dies kann nicht Gottes Wille sein – dies nicht! Wie kann ich hingehen und den hochgeachteten, berühmten Mann des langverjährten Totschlags bezichtigen, ihn öffentlich an den Pranger stellen und sein Leben vernichten – nicht seines allein, sondern auch dasjenige des Liebsten, was ich selbst auf dieser Welt habe? Und in welchem falschen, selbstischen Licht stände ich da vor jenen – denn sie wissen es beide, daß ich das Mädchen liebe!“

„Wozu, meinst du wohl, hat Gott dem zum Tode Verurtheilten heute, am Tag der Sonnenwende, seine Beichte in den Mund gelegt, wenn nicht, um dir zu zeigen, daß es Gottes Wille ist, du sollest des Mädchens Verbindung mit diesem Mann verhindern?“

„Ich kann nicht! Nicht diesen Kelch! Ich kann nicht! Für mein ganzes Leben würde ich mir wie entehrt und beschimpft erscheinen!“

„So hättest du nicht Priester werden, nicht deine Seele Gott angeloben sollen! Deine Seele gehört nicht Gott – sie gehört der Welt! So, wie du handeln willst, handelt ein Kavalier, ein Ehrenmann, im Sinn der Kaste, der du angehörst – als demüthiger Knecht Gottes hast du nur einen Weg vor dir!“

„O, ein Wunder – ein Zeichen – eine Offenbarung von oben!“

„Du bedarfst ihrer nicht! Du findest die Offenbarung in der Tiefe deines Herzens – folge ihr! Es ist ein Pfad der Thränen und der Dornen, den du wandeln sollst – aber wer nicht sein Kreuz aufnimmt und folgt mir nach, der ist meiner nicht werth!“ – – –

Im Osten brach das Morgenroth an – ein Hahn krähte in der Nähe – die Baumwipfel schauerten im herben Frühlüftchen – hier und da setzte ein verschlafenes Vogelstimmchen mit einer einzelnen Note ein. Die Sonnenwendnacht war vorüber!

Das Licht im Osten verstärkte sich, wurde strahlender, triumphirender hinter den Baumkronen hub es an, zu glühen wie eine Feuersbrunst – Eos, die rosenfingrige, kam in ihrem Sonnenwagen herauf. –

Zu Ende der Frühling – die Zeit des Sehnens, Hoffens, Erwartens, des schüchternen Blühens und Knospens; jetzt tritt der Sommer in sein Recht, er bringt die Erfüllung – die Entscheidung! –

Eine Fluth von rothgoldenem Licht ergoß sich über den einsamen Mann am Fenster.

„Sonnenwende!“ sagte er laut vor sich hin – dann deckte er seine Augen mit der Hand zu, als blende ihn der Glanz des glorreich aufsteigenden Tagesgestirnes. –




15.

Die Bewohner der „zweiten Hofgasse“ – es gab deren drei in F. – bescheidene, kleine Leute, Handwerker, Krämer, Trödler, waren erstaunt, einen schlanken, sehr hübschen Ulanenoffizier in voller Uniform heute, am Morgen des vierundzwanzigsten Juni, an ihren niedrigen Häuschen ruhelos auf- und abgehen zu sehen. Die „Hofgassen“ gehörten zum ältesten Theil der Stadt, sie waren eng und winkelig und sehr unregelmäßig gebaut, dazu nicht einmal von charakteristischem Aussehen, sondern häßlich und nüchtern. Früher hatte es hier ein paar öffentliche Gebäude gegeben: eine Kaserne, die schon seit Jahren nicht mehr als solche benutzt wurde, halb verfallen war und jetzt als eine Art von Proviantraum diente, und ein Arresthaus, das man ebenfalls nicht mehr brauchte und zu welchem ein viereckiger gepflasterter Hof gehörte, der nach der Straße zu mit einem festen Thor, aus zwei mächtigen, eisenbeschlagenen Flügeln bestehend, abgeschlossen war. – Vor diesem Thor nun ging der Ulanenoffizier, die halbe Hofgasse entlang, seit einer guten Viertelstunde auf und ab. Die Kinder, die vor den Thüren spielten, bewunderten jedes Stück seiner Uniform, und die Frauenzimmer, die ziemlich häufig die Köpfe aus ihren Behausungen streckten, angeblich, um nach ihren Kindern zu sehen, fanden, daß es ein hübscher Herr sei – aber was konnte er hier wollen? – Die Männer waren sammt und sonders schon an ihre Arbeit gegangen, aber auch von ihnen hätten es wenige zu deuten gewußt, was es mit der Anwesenheit eines Offiziers um diese Stunde und in dieser Gegend auf sich habe – sie lasen keine Zeitungen, höchstens kleine Flugschriften und Broschüren, die für den Arbeiterstand gedruckt wurden – und die Angelegenheit, um die es sich hier handelte, war von den Behörden sorgsam geheim gehalten worden und sollte erst als vollzogene Thatsache in kürzester Fassung dem Publikum bekannt gegeben werden. –

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 870. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_870.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)