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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

daß es nur von einer blutigen Hand ergriffen, nicht aber zur Ausführung eines tödlichen, also tiefen Stiches verwendet worden war.

Es war schwer, Klarheit in die Sache zu bringen. Wie war Burkhard ins Wasser gerathen? Und wessen blutige Hand hatte das Messer am Rande des Wassers liegen lassen?

Nach Ruperts Aussage hatte er das Messer benutzt, um die Tannenzweige abzuschneiden, da er in dem dichten Geäste für das Schwingen einer Axt keinen Spielraum gehabt hatte; dann war er, von Burkhards Wurf getroffen, mit dem Messer herabgestürzt. Burkhard mußte ihm darauf das Messer genommen und sich selbst und das Messer dabei mit Blut befleckt haben. Und dann? Dann mußte er davongelaufen und vom Pfade ab den felsigen Abhang hinaufgeklettert und in den tosenden Wasserfall gestürzt sein! Noch war die Annahme möglich, daß er auf die andere Seite des Wassers hatte gelangen wollen, daß er die nur theilweise überflutheten Felsstücke hatte betreten wollen, hinter denen sich das Wasser vor dem Sturze staute. Wozu aber über den Bach? Ihm, dem rohen, gewaltthätigen Raufbolde konnte der Anblick eines blutenden Gegners kein solches Entsetzen einjagen, daß er kopflos fortgestürmt wäre, um auf schwindelndem gefährlichen Wege das wilde jenseitige Ufer zu erreichen, wo er doch nicht bleiben konnte.

Für die Wieselbacher und Dockenförther Bauern, für fast alle Bewohner des Gebirgsthales war die unaufgeklärte Frage, wie Burkhard ins Wasser gerathen sei, der Beweis, daß Rupert ihn hineingeworfen habe; für das Gericht war sie es nicht.

Entscheidend war zuletzt die Aussage des Dockenförther Arztes, der sich alle andern Sachverständigen mit ihrem Gutachten anschlossen. Danach mußte ein Wurf, wie er Rupert getroffen hatte, unbedingt sofortige und langandauernde Bewußtlosigkeit zur Folge haben, er konnte nicht anders als völlig bewußtlos von der Tanne herabgestürzt sein; dafür sprach auch der Ortsbefund, bei dem man deutlich im blutgetränkten Moose erkannt hatte, daß der Kopf nur an einer Stelle gelegen haben konnte. Dafür sprach auch ferner der betäubte Zustand, in dem Rupert noch lange nachher gewesen war, in dem ihn der Otterhofbauer und der Arzt gefunden hatten; er hatte daran gemahnt werden müssen, sich den Kopf zu verbinden, und hatte später, noch immer halb unzurechnungsfähig, seine Kleiderkiste auf offener Landstraße stehen lassen. Damit war sein verstörtes, auffälliges Wesen zur Genüge erklärt, ferner aber auch damit, daß er seinem Vater Burkhards Unthat hatte verbergen wollen und darum zu leugnen versuchte, überhaupt mit ihm zusammengekommen zu sein.

Das Gutachten sämmtlicher Aerzte über die unbedingt das Bewußtsein raubende Beschaffenheit der Kopfwunde führte den Gerichtshof und die Geschworenen zu der Erkenntniß, daß Rupert nach Empfang derselben nicht imstande gewesen war, seinen Bruder anzufallen ober gar einen schweren Körper den Abhang hinauf ins Wasser zu schleppen. Ebenso unmöglich war das Umgekehrte, daß Rupert nach vollbrachter That verwundet worden sei. Die Geschworenen verneinten sämmtliche Schuldfragen und Rupert wurde sofort freigelassen.




Der Winter war vergangen und unter Stürmen und gewaltigem Aufruhr der Elemente bereitete sich die Auferstehung der Natur vor; in der Gegend, in der unsere Geschichte spielt, ist dieselbe kein sanftes Erwachen zu neuem Leben, kein fröhliches Hervordrängen der grünen jungen Keime zum warmbelebenden Kusse der Sonnenstrahlen, sondern ein Ringen mit furchtbaren Gewalten, die das sich emporkämpfende Leben zurückzwingen möchten in die Tiefen der Erde. Und dies Leben selber erscheint nicht in lieblicher Gestalt, sondern mit Gewitterstürmen, mit Donner und Blitz besiegelt das Frühjahr seinen mühsam errungenen Sieg.

Ein noch düstereres Bild als gewöhnlich bot die Moorheide in dieser Jahreszeit, wo der schmelzende Schnee sie ganz unwegsam machte und wo in den Steinbrüchen in der Nähe des Gehöftes das schmutzige Wasser brausend herabstürzte. Der Moorheidehof war nur durch die hölzerne Nothbrücke zu erreichen, die ihn mit der Landstraße verband.

Selten aber krachte das morsche Balkenwerk dieser Nothbrücke unter dem Fuße eines Nahenden. Der Moorheidehof mit seinen düsteren, baufälligen Gebäuden und seiner öden Lage sah nicht nur aus wie von der übrigen Welt ausgestoßen, er war es auch wirklich. Das „Amt“ hatte Rupert nicht zum Mörder gemacht, wie dieser es befürchtet hatte, die Volksstimme aber machte ihn dazu. Die Frage, wie Burkhard in das Wasser gerathen sei, war unbeantwortet geblieben, und den Bauern war es nicht aus den Köpfen zu bringen, daß ihm Rupert hineingeholfen haben müsse.

Rupert merkte auf Schritt und Tritt, daß er geächtet war; er fühlte und hörte es aus allem heraus, ohne daß es ihm irgend jemand gesagt hätte, ohne daß ihm eine Handhabe gegeben worden wäre, jemand darüber zur Rede zu stellen. Niemand sprach den Verdacht mit klaren Worten aus, niemand nannte das Gespenst beim Namen, das auf der Schwelle des Moorheidehofes hockte, aber gemieden und geächtet war es fortan, dies unheimliche Haus, in dem jeder Winkel, jedes Geräth, der leere Platz am Herd und der leere Platz am Tisch den Mörder an den Gemordeten mahnen mußten.

Aber die Bewohner des unheimlichen Hauses ließen sich von dem allem nicht beugen und niederdrücken. Erlöst von der marternden Angst, Rupert könnte schuldig gesprochen werden, und erlöst von Burkhards roher Tyrannei, schien der Moorheidler neu aufzuleben. Wohl grämte es ihn tief, daß Rupert so furchtbar angeschuldigt wurde, aber er war es nicht gewohnt, Ansprüche auf ein ungetrübtes Glück zu erheben; er ertrug klaglos den auf ihm lastenden Bann, äußerte nie ein einziges Wort darüber, und je mehr die Außenwelt ihn von sich ausschloß, desto mehr genoß er den Frieden seiner Häuslichkeit in der öden Moorheide. Seine Hauptsorge war, daß dem Rupert die Gerüchte, die über ihn gingen, einmal zu Ohren kommen könnten, denn er glaubte – oder redete es sich vielleicht auch nur ein –, daß dieser es gar nicht merke, wie man ihn fürchtete und mied. Freilich fiel es ihm manchmal im stillen auf, daß Rupert selbst unwillkürlich allem aus dem Wege ging, was die Leute genöthigt hätte, Farbe zu bekennen; er gab ihnen niemals Gelegenheit dazu, gegen ihn freundlich oder unfreundlich zu sein. Er wollte den Augenblick hinausschieben, der doch einmal kommen mußte, wo der ihn bisher nur im Dunkeln umschleichende, wesenlose Gegner ans helle Tageslicht treten, wo der Verdacht, in Worte gefaßt, ihm entgegengeschleudert werden würde; er wollte ihn hinausschieben, denn er fühlte, daß er es nicht ertragen würde, das Wort „Mörder“ zu hören. Und doch sehnte er sich wieder danach, sich einmal Luft zu machen, sehnte sich danach, diesen abscheulichen Verdacht in der Person seiner Verbreiter zu Boden zu schlagen!

Er hatte seit seiner Entlassung aus dem Gefängnisse den Otterhof nicht wieder betreten, Eva nicht wieder gesehen. Und doch hätte er jetzt um sie anhalten können, er war der Erbe eines Bauernhofes und dadurch ihr ebenbürtig, und mit ihrem Geld, das sie, wie sich die Bauern ausdrücken, gleich im Strickbeutel mitbrachte, konnte er den Moorheidehof ausbauen, erneuern, vergrößern, die Steinbrüche ausnützen und schließlich aus dem düsteren Gehöfte eine stattliche Besitzung machen, eine würdige Wohnstätte für die reiche Bauerntochter.

Aber er fühlte nur allzu deutlich, daß er in der Person des Otterhofbauern seinen erbittertsten Gegner zu suchen habe, denjenigen, dessen gewichtiger Einfluß den Verdacht gegen ihn nährte und wach erhielt, der es nicht litt, daß die Gerüchte schwiegen und in Vergessenheit geriethen.

Er blieb daher dabei, den Otterhof nicht zu betreten, so sehr auch sein Herz sich danach sehnte, Eva wiederzusehen, ihr zu danken für den treuen Abschiedsgruß, den sie ihm damals auf seinen traurigen Weg mitgegeben hatte. Den Dockenförther Arzt aber, für den er, seit sein Gutachten ihn gerettet hatte, wärmste Dankbarkeit und Freundschaft hegte, hatte er gebeten, doch einmal Gruß und Dank an Eva zu übermitteln, wenn er am Otterhof vorüberführe. Dieser hatte die Botschaft getreulich ausgerichtet und von Eva einen herzlichen Gegengruß zurückgebracht nebst der Versicherung, daß bei ihr noch „alles beim alten sei“. Das war für Rupert Sonnenschein und Lebenslust gewesen. Die böse Meinung, welche die andern von ihm hatten, erregte seinen Grimm, kränkte und schmerzte ihn aber nicht; wenn Eva, wenn seine Eltern ihn für einen Mörder gehalten hätten, so hätte ihm, meinte er, das Herz darüber brechen können. Da diese aber von seiner Unschuld überzeugt waren, da auch der Dockenförther Pfarrer, der Lehrer, der Arzt und noch manche andere Persönlichkeiten, auf die er etwas hielt, durch ihre Besuche im Moorheidehofe

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 860. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_860.jpg&oldid=- (Version vom 9.2.2023)