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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)


mit jener tiefen Schwermuth und finstern Ergebung, die ich vor Jahren schon an ihm kennengelernt hatte, bis zu diesem Tage, da ihm der fremde Arzt als einziges Hilfsmittel, das Leben seines Weibes noch eine Zeit lang hinzufristen, einen längern Aufenthalt im Süden, die sorgsamste Pflege und vollkommene Ruhe genannt hatte. Da brach der Damm der Selbstbeherrschung, der wehrlosen Duldung rettungslos durch vor der wilden Verzweiflung, die den Mann bei dem Gedanken packte, sein Lebensglück, das einzige, was ihm sein trostloses Dasein noch erträglich machte, könnte ihm genommen werden. Wie ich Ihnen schon sagte – er war außer sich, führte eine Sprache, deren ich ihn nie für fähig gehalten hätte – bat und flehte nicht, sondern forderte und drohte – forderte jenen Schuldschein und jenes Versprechen zurück, das ihn für ewige Zeiten an die Sklavenkette schmiedete, forderte diese Papiere, um sie hier, angesichts des Gläubigers, auf ewig zu vernichten, und begehrte ein Kapital dazu, das ihn instand setzte, alles das zu thun, was der Arzt gewünscht hatte.

Und dazu brach ein Gewitter los, so furchtbar, daß das alte, baufällige Haus bis in den Grund hinein erbebte. Soweit ich zurückdenke, nie habe ich ein ähnliches Unwetter erlebt wie an jenem Tag der Sonnenwende – es sind gerade heute sechzehn Jahre seitdem vergangen! Und während der Donner dröhnend über uns hinfuhr, hatte ich Mühe, mit hastig geflüsterten Worten, mit angstvollen Gebärden meinen jungen Freund zurückzuhalten, der am ganzen Körper bebte vor Wuth und während der Anklagen und Zornesausbrüche seines Vaters immer wieder auf dem Sprung stand, sich auf den Teufel zu stürzen, der sie alle ins Elend gebracht hatte. Fahlbleiche Blitze durchzuckten den kleinen, halbdunklen Raum und ließen das Jünglingsgesicht geisterhaft wie ein Todtenantlitz erscheinen; ich träume zuweilen noch von diesem Gesicht. – – Wenn dann das erschütternde Grollen über unsern Häuptern nachließ, hörten wir wieder nebenbei den leidenschaftlichen Ansturm auf Recht, Pflicht, Gewissen – lauter Begriffe, die der Mann, dem sie entgegengeschleudert wurden, gar nicht kannte, die er von sich wies mit seiner hohlen, dünnen, pfeifenden Fistelstimme. Er den Schuldschein hergeben, der hier, in eben diesem Pult, an dem er sitze – er schlug hart mit der Hand auf das Holz – wohlverwahrt liege? Daß er ein Narr wäre! Das hieße denn doch, sein Geld einfach auf die Straße werfen, dazu habe er keine Lust! Und noch Geld obendrein geben? Wofür denn? Für die Schreiberdienste, die ihm der Monsieur mit dem vornehmen, französischen Namen geleistet? Möge er doch das Gesetz anrufen zur Entscheidung – er selbst wisse freilich genau, wie diese ausfallen müsse, aber man könne es ja probiren! Wozu habe man eine kranke Frau und eine Menge hungeriger Kinder, wenn man sie nicht ernähren könne? Er, der Gläubiger, sei noch gütig und geduldig genug gewesen – er brauche nur seine Schuldforderung einzuklagen, und die gesammte Bettelgesellschaft fliege auf die Straße. –

Hier folgte ein dumpfer Wuthschrei des Buchhalters, wahrscheinlich von einer drohenden Gebärde begleitet, denn wir hörten deutlich die angstheisere Stimme Heßbergs: ‚Hinaus – hinaus mit Ihnen, auf der Stelle – oder ich schieße Sie nieder!‘ Eine Thür flog schmetternd ins Schloß – – – – – – – – Dann – – – –

Wie es sich in der Reihenfolge begab, weiß ich noch heute nicht – nur daß Karl sich plötzlich wie ein Rasender von meinen haltenden Händen losmachte, mich zurückstieß wie einen Spielball und in das Nebenzimmer stürzte. Zugleich brach der Donner über uns mit einer Gewalt los, daß ich meinte, es stürze alles über uns zusammen – kein anderes Geräusch konnte dagegen aufkommen – und als ich, halbgelähmt vor Entsetzen, die Thür des Nebenzimmers öffnete, sah ich in der Nähe des Fensters ein kleines, blaues Rauchwölkchen sich zertheilen, und Heßberg lag entseelt am Boden, während Karl mit dem im Schloß steckenden Schlüssel das Pult öffnete und, anscheinend ganz kaltblütig, nach dem Schuldschein suchte. – – Als er mich gewahrte, als unsere entsetzten Blicke sich trafen, sagte er nur mit tonloser Stimme: ‚Du wirst mich nie verrathen!‘ und ich erwiderte ein ebenso tonloses: ‚Nein!‘

Wir suchten dann gemeinsam den Schuldschein und jene unselige Verschreibung, fanden sie, ließen alles übrige stehen und liegen, wie es stand und lag, und verließen, unter einem neuen Ausbruch des Gewitters, das Zimmer.

(Fortsetzung folgt.)




Allein am Weihnachtsabend.

Ganz allein! Denn der gelangweilte Kellner an der Thür dort zählt so wenig als die Bierkrüge auf dem Tisch, die heute umsonst der braven Familienväter harren. Keiner läßt sich blicken, und Herr Amtsrichter Streber, der „schöne Streber“, wie man vor zehn Jahren sagte, sitzt allein vor der Extraflasche, die ihm den Weihnachtsabend erheitern sollte, aber er sieht ganz und gar nicht heiter aus. Verdammte Gefühlsduselei! ’S ist ein Abend wie ein anderer auch, warum geht man nicht heim, setzt sich an den Schreibtisch und erledigt bei einer guten Cigarre seine Akten, wie dreihundertvierundsechzig Mal im Jahre? Ja – warum?! …

… Der einsame Mann stützt den Kopf in die Hand, seine Gedanken fliegen rückwärts. Nicht bis zur Zeit, wo er selber als glückliches Kind unter dem Christbaum jubelte, nein, nur bis zum ersten Weihnachtsabend, den er, der damals neu aufgegangene Stern, hier im Städtchen feierte. Damals kämpften die Familien um seine vielversprechende Person, und mit einem gehörigen Selbstgefühl war er bei den glücklichen Siegern oder vielmehr Siegerinnen eingetreten. Aber gleich jener lustigen Weihnachtsbowle zwischen Luisens, Paulinchens und Berthas hübschen Augen weitere Folgen geben?! … Keine Spur! Der schöne Streber kannte seinen Werth und es fiel ihm nicht ein, so aus dummer Verliebtheit zu heirathen wie verschiedene seiner guten Freunde, die nun zwischen Sorgen und kleinen Kindern saßen. Nein – er war ein Lebenskünstler, er wußte, daß die Leute sich ihre elenden Schicksale alle selbst zurechtmachen, er wollte das seinige gestalten, daß es eine Art hatte!

Reich mußte Sie sein, unbedingt! Aber auch noch schön, liebenswürdig und häuslich. Er wollte beneidet werden um seine Wahl, Carrière machen und nebenbei das elegante Leben führen, welches er seiner Persönlichkeit allein für angemessen erachtete. So lautete sein Programm.

Und die Ausführung ? … Ja, die hatte doch manche Haken, es gab überall ein Aber! Verliebt waren die sämmtlichen Mädels ja bald, diese Vorbedingung zur Wahl kostete den schönen Streber keine Anstrengung, er hätte nur zu wollen brauchen … Da war zum Beispiel Lina, die Fabrikantentochter mit dem blassen gedunsenen Gesicht und den wässerigen Augen. Die Mutter fast unmöglich, der Vater Winkler geradezu grotesk. Aber seine plumpen Schaufelhände hatten Millionen zusammengescharrt, und man konnte sie bekommen, wenn man sich überwand, die Tochter zu heirathen. Wenn man sich überwand – ja! …

Da war ferner die einzige, die sein Herz lebhaft schlagen machte, die schöne, temperamentvolle und hinreißend lebenslustige Ottilie, der Mittelpunkt aller Gesellschaften. Sie sang und tanzte entzückend, sie war dabei auch noch häuslich und stets fröhlicher Laune. Aber sie hatte einen Hauptfehler – sie war arm! Also ein Unsinn, an „so etwas“ zu denken! Er dachte auch nicht daran, er gestattete seinem Herzen nur einstweilen das süße Geplänkel von Blicken und halben Worten, das so angenehm innerlich erwärmt und alles oder nichts bedeuten kann, je nachdem man’s nimmt.

Er sieht wieder deutlich das Gesellschaftszimmer, wo man am Sonntag vor Weihnachten zu Spiel und Musik versammelt war. Die Herzenstemperatur hatte bei ihm einen bedenklich hohen Grad erreicht, auch Ottiliens Augen strahlten in verheißungsvollem Glanze …

„Du meine Seele, du mein Herz –“

sang er mit seiner weichen Tenorstimme, einzig an sie gerichtet, und jubelnd erklang es bald darauf von ihren Lippen:

„Er ist gekommen in Sturm und Regen –“

… Dann ein langer glühender Handkuß, ein Lispeln: „Fräulein Ottilie, ich danke Ihnen!“ – und ein Blick, unter dem das Mädchen glückselig erschauerte.

Am nächsten Morgen kam Streber – nicht. Ottilie wanderte rastlos von einem Fenster ans andere – umsonst. Aber plötzlich fiel ihr ein: Donnerstag war ja Bescherabend, und neulich hatte er angefragt, ob ein später Gast wohl zurückgewiesen würde, wenn er anklopfe? Gewiß, er wollte dann kommen und sich selbst, ihr Lebensglück, als Bescherung bringen!

Ottilie flog jetzt wie auf Federn durchs Haus; ihr lebhafter Sinn malte ihr den Weihnachtsabend bis aufs Kleinste aus, sie war glückselig! –

Auch er beschäftigte sich mit dem gleichen Gedankengemälde, als er vor dem Spiegel bedachtsam die helle Binde und den schwarzen Tuchrock anlegte. Er sah das bescheidene Zimmer, die überraschte Miene der Majorswitwe bei seiner Erklärung, den Jubel Ottiliens. Fünf volle Minuten gestattete er sich den Wonnetraum, das glühende junge Geschöpf in den Armen zu halten und ihre süßen Lippen zu küssen … Dann

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 816. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_816.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2021)