Seite:Die Gartenlaube (1890) 791.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

nicht, Langeneß mußt’ es sein. Er hat den Kopf ganz verloren, der Teufel steh’ da am Steuer.“

Sechs Mann waren schon glücklich in den Booten, es fehlten nur noch der Kapitän und Lars. Die Leute hatten den letzeren begegnet, wie er an ihnen vorübereilte. Dem Schiff sei weiter nicht zu helfen, meinten sie. Zwar wenn es bis zur Fluth aushalte, vielleicht könne es dann wieder flott werden, der Kapitän denke wohl daran und wolle das Schiff nicht verlassen.

Claus freute sich jetzt, daß Bill nicht kam. Wie die elenden Burschen ihren Kapitän verleumdeten!

„Da könnt Ihr lange warten, der Lührsen verläßt sein Schiff nicht!“ rief er triumphirend. „Wo nur Lars bleibt?“

Ein wilder kurzer Schrei flog herüber, die Leine schwankte.

„Na, Alter, jetzt kommt er schon, wäre auch ein Narr,“ sagte spöttisch der eine Matrose.

Claus wollte es noch nicht glauben; hatte der Matrose nicht die Wahrheit gesprochen, so mußte Bill bleiben.

Ein Mann näherte sich mühsam den Booten – ist’s Lars – ist’s Bill Lührsen, der Kapitän?

„Bill!“ schrie Claus.

Der Mann an der Leine stutzte, dann eilte er rascher dem Rufenden zu; sein Gesicht war weiß wie die aufblitzenden Wogenkämme. Er wankte – Claus griff nach ihm und half ihm in das Boot. Es war Bill.

„Hast Du Lars nicht gesehen?“

„Lars! Ein Mann kletterte auf den Vordersteven. Er schrie wie wahnsinnig, eine Sturzwelle riß ihn weg – also es war doch Lars!“

„Ja, Lars und kein anderer! Lars! Sein Rolf rief ihn –“

„Sein Verhängniß!“ entgegnete düster Bill.

„Hoffst Du denn nicht auf die Fluth?“ meinte Claus.

„Das heißt, ich hätte bleiben sollen,“ sagte nach Athem ringend Bill. „Wär’ auch geblieben, da glaubte ich Lars’ Gesicht vor mir zu erblicken, er sah aus wie ein Gespenst und mich packte das Grauen. Er rief nach seinem Rolf, bis ihn die Welle erfaßte; da floh ich – ich dachte an gar manches und gab jede Hoffnung auf.“

Eine weißköpfige Woge wälzte sich heran, die schwarze Schiffsmauer hob sich krachend auf ihrem Rücken – die Boote mit den Männern flogen weit zurück über die Ufer des Wattstromes – „die Fluth!“ tönte es aus jedem Munde.

Bill blickte scheu zurück; die „Laura“ war verschwunden, die Fluth hatte sie befreit; jetzt trieb sie hilflos, verlassen auf den Wogen, Rungholts letzte Hoffnung! Denn es ging schon einige Zeit nicht mehr recht mit der Schiffahrt und es stand schlecht mit Rungholt – die „Laura“ war noch sein einziger Halt gewesen.

Bill fühlte die verächtlichen Blicke der Männer um sich her in der Dunkelheit – die Besinnung schwand ihm, er sank auf den nassen Grund des Bootes.

Als der Tag graute, erblickten die Oländer von ihren Werften aus auf der nahen Sandbank ein Wrack, die steuerlose „Laura“ war dahin getrieben. Die jetzt wieder beruhigten grauen Wellen des Wattenmeeres bespülten einen dunklen Gegenstand am Ufer, mit dem Fernglas erkannte man ihn als menschlichen Körper; – ganz Oland versammelte sich bald davor, es war Lars Tönningen, der Seemann.

Bei Claus in der Stube saß Bill vor einer geleerten Flasche Gin und blickte mit gläsernen Augen, mit dem Kopfe wackelnd, hinaus auf den dunklen Fleck am Horizont.

„Hi hi! Das hab’ ich errathen, da läg’ ich jetzt wie der dumme Lars da unten; ’s ist doch was werth, so ein Sprung im Glas, man kennt sich doch aus! Verdammt gut, das Zeug, besser als Seewasser – ah!“

Er schüttete das letzte Glas hinunter. Vom Watt herauf brachten sie, Gebete murmelnd, die Leiche des Lars.


4.

Christen Rungholts Reederei, einst die bedeutendste in H., war nicht mehr. Der Verlust der „Laura“ war der letzte und entscheidende von einer Reihe von Verlusten.

Als Bill Lührsen in Begleitung des Seerichters Claus mit der furchtbaren Nachricht eintraf, da rührte den alten Rungholt der Schlag, seine rechte Seite blieb seitdem gelähmt.

Der verächtliche Blick Holdes, als Bill den Hergang erzählte, machte diesen im Bewußtsein seiner Schuld stottern, tödtete in ihm den letzten Glauben an sich selbst. Er fürchtete sich vor seinem Weibe. Doch dieses hörte mit einem schmerzlich ergebenen Lächeln sein böses Geschick, sie wußte, daß es einst so kommen müsse, daß noch mehr kommen werde. – Sie sahen jetzt beide mit einer gewissen Ehrfurcht hinauf zu dem bestaubten Glas auf dem Schrank; ja, es lag eine Beruhigung für Bill in dem Anblicke dieses Zeichens seines unbeugsamen, ehernen Schicksals, es sprach ihn frei von aller Schuld. Nie hätte er das Schiff retten können, da stand es ja geschrieben in dem grünen Glase; er war seinem Weibe, seinem Kinde die Rettung seines nackten Lebens schuldig, was hätte denn alles Ankämpfen gegen diese unsichtbare, feindliche Macht genützt! Es kam über ihn die Ruhe des Stumpfsinns, der mit seltsamer Wollust den nächsten Schlag abwartet, er fühlte sich zuletzt wohl in dieser Rolle des vom Schicksal Verfolgten.

Nur ein Gefühl rüttelte ihn noch auf, erhielt noch den schwachen Rest seiner Lebenskraft, die Liebe zu seinem Töchterchen Maria. Die körperliche Schwäche des Kindes bei der Geburt hatte nichts zu bedeuten gehabt, Maria hatte sich herrlich und kräftig entwickelt; sie glich dem frischesten, sonnigsten Meermorgen und ihre großen Augen konnten sich an Tiefe mit der Nordsee messen.

Bill forschte vergebens in ihnen nach dem wehmüthigen Schimmer, der ahnungsvoll in Kinderaugen liegt im dunklen Vorgefühl kommenden Leides – nichts davon! Nur kecker Uebermuth, ein bißchen Trotz, kindliche Unschuld standen darin zu lesen. Er wußte nicht recht, ob er sich darüber freuen sollte; wie furchtbar würde das arme Geschöpf einst aufgeweckt werden aus seinem Jugendtraume! Der Gedanke, diese lieben, glückstrahlenden Augen einst von Thränen geröthet, dieses rosige Gesicht vom Gram verzehrt zu sehen, nagte erst recht an ihm. Mit selbstquälerischer Spitzfindigkeit suchte er sich zu beweisen, daß der Fingerzeig des Schicksals nicht nur ihm und Laura, sondern auch ihrem Kinde gelte. Er las gierig alte Bücher mystischen Inhaltes, voll Anmeldungen, Vorherbestimmungen, wunderbaren Ahnungen, und gerieth immer tiefer in das verderbliche Netz seines Wahnes.

Es konnte nicht ausbleiben, daß Bill in der Verbindung mit Laura sein ganzes Unglück erblickte. An dem verhängnißvollen Tag ihrer Hochzeit begann ja der Umschwung, bis dahin war er nur vom Glück begünstigt gewesen, und wenn er auch seinem Weibe keinen Vorwurf zu machen wußte, wenn er sich auch selbst nicht Rechenschaft geben konnte, wie Laura eine Schuld dabei treffen sollte, eine Bitterkeit blieb doch zurück, und in einem verbitterten Herzen stirbt die Liebe.

Der alte Rungholt rettete gerade so viel aus dem Zusammensturz, als er und sein Weib zu spärlichem Unterhalt bedurften. Bill mußte selber für sich sorgen. Aber die Geschichte mit der von der Mannschaft und ihrem Kapitän verlassenen „Laura“ war überall bekannt geworden; man sah Bill mit zweideutiger Miene an. Mit seiner Seemannslaufbahn war es aus, er war jetzt jedem Reeder zum Matrosen zu schlecht.

Nun begannen Noth, Zank und gegenseitige Vorwürfe, und mitten darin stand ewig lachend, scherzend die zehnjährige Maria und knüpfte immer wieder von neuem das gelockerte, zerfressene Band zwischen den Eltern. Für sie mußte der Vater erwerben; wenn es ihr auch nichts nützte, er wollte wenigstens kämpfen mit dem erbarmungslosen Schicksal um sein Kind.

Ein kleiner Kutter aus der Konkursmasse Rungholts wurde von ihm um ein Billiges erstanden.

Er kannte die Küsten und die Inseln weit umher, hatte überall alte Bekannte, der Handel mit Austern, Vogeleiern und Garneelen sollte ihn wenigstens anständig ernähren.

Laura betrieb den Handel in dem kleinen Hause am Hafen, das Bill gemiethet hatte, während dieser die Ware theils selbst sammelte, theils von den Strandbewohnern und Fischern aufkaufte. Die Mannschaft der aus- und einlaufenden Schiffe war ihre Kundschaft. Die kleine Maria ging in die Schule von H., aber auch in ihrer freien Zeit ließ Laura sie nicht theilnehmen an dem Geschäfte des Tages, der Umgang mit dem derben Seevolke schien ihr gefährlich für das unerfahrene Kind.

Eine Reihe von Jahren gedieh das Geschäft, Bill war unermüdlich, und das Glück schien ihm günstig; es kam ihm ganz sonderbar vor, ja, es beunruhigte ihn fast. Sollte das alles, was er seither geglaubt hatte, doch Unsinn sein, blöder Aberglaube, wie Holde sagte? Er erschrak förmlich vor dem Gedanken – dann hatte er ja einem Hirngespinst sein Glück geopfert, seine Ehre –

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 791. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_791.jpg&oldid=- (Version vom 22.6.2023)