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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

ihm keine Zeitbeschränkung mehr auferlegte, brachte durch die umständliche Erledigung seiner Briefschaften die etwas ungeduldige Hausfrau oft zur Verzweiflung. So auch heute, wo sie mit jeder Fiber ihrer Seele die Beendigung des Frühstückes herbeisehnte, um mit dem Aufräumen des Wohnzimmers den Anfang des heutigen Greuels zu machen.

„Natürlich“ schien aber das Geschäft des Brieföffnens heute gerade gar nicht vor sich gehen zu wollen!

Erst ordnete der glückliche Empfänger seine Korrespondenz nach nur ihm bekannten Grundsätzen und legte jede Sorte, die Ränder der Umschläge nach Möglichkeit aufeinander passend, zusammen, und dann nahm er den einen eigentlichen Brief heraus, um ihn mit Hochgenuß zu betrachten.

„Nun!“ drängte seine Frau, „so mach’ ihn doch auf!“

„Geduld!“ sagte der Oberstlieutenant und drehte den Brief nachdenklich hin und her; „von wem kann denn der sein?“

Er studierte kopfschüttelnd den etwas unleserlichen Poststempel und das Siegel, wie es denn überhaupt eine Eigenthümlichkeit vieler Leute ist, daß sie sich eine halbe Stunde vor einem geschlossenen Briefe den Kopf über den Absender zerbrechen, statt einfach den Umschlag aufzumachen und sich davon zu überzeugen.

„Liesbeth,“ wandte er sich dann an seine Tochter, „ich habe mein Papiermesser auf meinem Schreibtisch liegen lassen!“

„Natürlich!“ sagte Frau Anna, „wenn es schnell gehen soll! – So mach doch einmal ohne Papiermesser auf!“

Der Oberstlieutenant sah sie groß an.

„Ja!“ sagte er dann mit tiefer Verachtung, „Du bist das imstande, Anna, den Umschlag so mit dem Zeigefinger im Zickzack aufzureißen – das kann ich nicht – so etwas ist angeboren!“

Anna schwieg – nicht aus Friedensliebe, sondern um die Verhandlungen nicht zu verlängern; Liesbeth brachte das Papiermesser.

Der Vater nahm es, begann aber noch nicht den Brief aufzuschneiden, sondern wiegte verwundert den Kopf und sah das corpus delicti an.

„Was ist denn nun wieder?“ frug seine Frau mit vor unterdrückter Ungeduld zitternder Stimme.

„Komisch!“ bemerkte der Oberstlieutenant sinnend, „die Postmarke ist links unten aufgeklebt – sonst sitzen sie doch immer rechts oben!“

Anna verschränkte die Finger, warf einen Blick nach oben und deutete durch beredtes Mienenspiel ihre Ansichten über die Männer im allgemeinen und über den ihrigen im besondern an. Die Zeit verstrich.

Endlich öffnete der Vater den Brief.

„Von wem ist er denn?“ frug die Frau.

„Ich muß doch erst lesen!“ gab der Oberstlieutenant mit erhobener Stimme zurück.

Die zitternde Erwartung seiner Frau und Tochter bemerkend, hielt er es für pädagogisch, diese unbefugte Neugier noch nicht zu befriedigen. Er las mit staunenswerther Langsamkeit und verschärfte die Qual seiner Damen noch, indem er durch lebhaftes Mienenspiel, Lächeln und kurze Ausrufe wie „aha!“ oder „nun sieh’ ’mal!“ auf einen höchst interessanten Inhalt des vorenthaltenen Schreibens schließen ließ.

Endlich war er fertig. Er erhob sich legte den Brief zusammen und steckte ihn in die Tasche.

„Nun bitte!“ rief Anna empört, „Du wirst uns doch wohl mittheilen, was Du erfahren hast, Emil!“

„Eigentlich wäre ich dazu durchaus nicht verpflichtet,“ erwiderte Emil, der heut seinen unausstehlichen Tag hatte, „aber da Euch ein Theil des Inhalts mit angeht, will ich ihn Euch nicht verschweigen. Mein alter Freund General Binder schreibt mir, daß sein Junge ein Kommando zur Centralturnanstalt bekommen habe und in den nächsten Tagen hier durchkommen werde. Er bitte, sich uns dann vorstellen zu dürfen.“

„Ein Lieutenant?“ frug Liesbeth mit großen Augen.

Der Vater lächelte – zum ersten Male an diesem Morgen.

„Ja!“ sagte er, „Du thust ja, als wenn Du noch nie einen Lieutenant gesehen hättest!“

„Wenigstens noch nie gesprochen!“ betonte Liesbeth wehmüthig, die sich entschieden durch diesen Mangel um eine der wichtigsten Lebensfreuden betrogen fand.

„Wird auch noch kommen!“ meinte der Vater behaglich, „Du kannst Dich vorläufig noch mit mir begnügen – ich bin ja auch einmal Lieutenant gewesen.“

Gewesen!“ wiederholte Liesbeth bedeutsam. „Aber Papa,“ rief sie dann plötzlich, „das ist wohl der Bruder von Lina Binder, mit der ich in der Pension zusammen war!“

„Freilich – die liebtest Du ja so!“ sagte der Vater jetzt wohlgelaunter und schickte sich an, das Zimmer zu verlassen.

„Bitte, komm vor Tisch nicht wieder hier herein, Emil,“ rief ihm seine Frau nach, „wir fangen mit dieser Stube an und haben schon dreiviertel Stunden verloren!“

„Sei unbesorgt,“ gab der Oberstlieutenant zurück, „ich gehe bis zu Mittag aus. Großes Reinmachen ist kein so besonderes Vergnügen für mich, daß ich mich noch extra dazu setzen sollte!“

„Weiter fehlte mir auch nichts,“ bemerkte die Mutter, als sich die Thür hinter dem Hausherrn geschlossen hatte, „das wäre das Angenehmste, was ich mir denken könnte!“

„Ich hätte Dir ja gut helfen können, Mama,“ sagte Liesbeth bedauernd. „Kann ich nicht heute einmal aus der dummen Litteraturstunde wegbleiben?“

„Nein,“ entschied die Mutter, „Du hast erst vorigen Freitag versäumt – um zehn Uhr gehst Du ab!“

Das Hilfscorps, eine noch nicht erprobte Scheuerfrau – die gewohnte konnte nicht kommen – und die Köchin wurden nunmehr aufgeboten, und binnen wenig Minuten war das behagliche Wohnzimmer in ein Chaos verwandelt, in welchem Stühle ihre vier ungraziösen Beine in stummer Anklage gegen die Decke streckten, die Familienbilder wehmüthig mit dem Kopfe an der Wand lehnten, und gardinenlose Fenster hohläugig auf dieses Bild der Ungemüthlichkeit starrten.

Amalie, die bereits oben erwähnte Köchin, kreidebleich und mürrisch, mit einem vorwurfsvollen Tuch um den Kopf, erklärte auf die theilnehmende Frage der Mutter nach ihrem Befinden, „es wäre ihr in den Magen gekommen!“ ein unbestimmtes „es“, welches sich nach dem Vorgefallenen nur auf das – übrigens inzwischen wieder eingefangene – Eichhörnchen deuten ließ.

Die leidende Amalie betheiligte sich unter herausforderndem Aechzen an der allgemeinen Thätigkeit und hielt halblaute Selbstgespräche, in denen die Wendung „der Mensch kann nicht mehr wie arbeiten“ – „der Mensch kriecht eben so lange, bis er liegen bleibt!“ eine wohllautende Begleitmusik zu ihren Leistungen bildete.

Die Stimmung der Mutter wurde infolge dessen natürlich nicht gerade ausgelassen heiter.

Die Scheuerfrau, die sich einer namenlosen Bildung erfreute und, um diese zu beweisen, jedes Glas ohne ersichtlichen Grund „Pokal“ nannte, war entschieden in Fremdwörtern gewandter als im Aufräumen. Sie schmetterte alle Augenblicke zerbrechliche Gegenstände wie Fanfaren durch die Luft und jonglierte in einer so betrübenden Weise mit den Porzellanschätzen des Hauses, daß man sich immerfort lebhaft an einen Polterabend erinnert fühlte.

Nur eine abscheuliche gemalte Kachel, durch die eine böse Freundin der Familie diese einmal recht gekränkt hatte, und auf deren Zerbrechen man schon öfter Belohnungen gesetzt hatte, trotzte auch diesmal mit eiserner Stirn jedem Unfall und ging heil und häßlich aus den drohendsten Gefahren hervor. Das diesmalige Aufräumen war ihr übrigens als letzte Gnadenfrist gestellt, und sie sollte, wenn sie wieder ganz blieb, dann sofort auf einen Bazar zu wohltätigem Zweck geschenkt werden – den bewährtesten Ableiter für alle unbrauchbaren und verhaßten Gegenstände eines Haushalts.

Angesichts des Zerstörungstriebes der helfenden Scheuerfrau kommandirte die Mutter diese in die Küche, wo sie unter dem eisernen Geschirr entschieden unschädlicher toben konnte; als aber Frau Anna von diesem Abstecher und den dazu gehörigen Anweisungen ins Wohnzimmer zurückkehrte, fand sie ein neues Unheil vor.

Die Köchin, die heut jeder schonte wie ein rohes Ei, und die schon in jeder Ecke verstohlen Baldriantropfen aus einem Fläschchen gekneipt hatte, saß in einem Lehnsessel zusammengekauert und überraschte ihre Gebieterin durch die Erklärung,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 783. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_783.jpg&oldid=- (Version vom 31.1.2023)