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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

aber der Todte wandelt noch ferner als Schatten auf Erden umher und hat noch immer Macht, Gutes und Böses zu thun.

Stirbt ein Ostjake, so beginnt unmittelbar nach seinem Tode das Schattenleben des Gewesenen; daher schreitet man unverzüglich zu seiner Beerdigung. Schon vor seinem Tode hatten sich alle Freunde des Scheidenden versammelt; sofort nach dem Ableben zündet man im Tschum, in welchem die Leiche liegt, ein Feuer an und unterhält es, bis man zur Grabstätte aufbricht. Diese liegt stets in der Tundra, auf erhabener Stelle, gewöhnlich auf dem Rücken eines langgestreckten Hügels; die Gräber sind mehr oder minder kunstvoll zusammengefügte Truhen, welche über dem Boden aufgestellt werden. In Ermangelung fester Bohlen zu ihrer Herstellung zerschneidet man ein Boot und bettet in dieses den Leichnam; nur sehr arme Leute tiefen eine seichte Grube im Boden aus und begraben in ihr den Todten.

Der Leichnam wird nicht gewaschen, aber mit Feierkleidern angethan und sein Haar gestrählt, sein Gesicht sodann mit einem Tuche verdeckt. Alle übrig bleibenden Kleider fallen den Armen zu. Einen fremden Todten berührt man nicht mit den Händen, einen geliebten Verwandten aber wohl, küßt ihm selbst mit Thränen im Auge das erstarrte Antlitz.

Auf einem Schlitten, unter Geleit aller versammelten Verwandten und Freunde, bringt man den Leichnam zum Bestattungsorte. In die Truhe oder in das Grab legt man ein Renthierfell, auf welchem der Todte ruhen soll, ihm zu Häupten und zu beiden Seiten Tabak, Pfeife und allerlei Geräth, welches er im Leben gebrauchte; um und unter die Truhe kommen alle diejenigen Stücke zu liegen, welche in ihr selbst nicht Platz finden, nachdem man die Geräthschaften vorher zerschlagen oder irgendwie für Lebende unbrauchbar gemacht hat, nach ostjakischer Ansicht zu Schatten von dem, was sie waren.

Währenddem hat man in der Nähe des Grabes auch ein Feuer angezündet und eins oder mehrere Renthiere geschlachtet, deren Fleisch jetzt von den Leidtragenden theils roh, theils gekocht genossen wird. Nach dem Leichenmahle spießt man die Schädel der geschlachteten Renthiere auf Pfähle, umwickelt sie oder nahestehende Bäume auch mit deren Geschirr, hängt die Glöcklein, welche sie bei festlichen Gelegenheiten und so auch heute trugen, an den oberen Jochen der Grabtruhe selbst auf, zerschlägt endlich den Schlitten, stürzt ihn über dem Grabe um und giebt diesem damit seinen letzten Schmuck. Dann zieht man heimwärts. Die Klage verstummt, und das Leben fordert wiederum seine Rechte.

Im Dunkel der Nacht aber beginnt der Schatten des Todten, ausgerüstet mit den zu Schatten gewandelten Werkzeugen, sein geheimnißvolles Wesen. Was er gethan, als er noch unter den Lebenden wandelte, thut er auch ferner. Unsichtbar für alle weidet er seine Renthiere, treibt er sein Boot durch die Wellen, schnallt er sich die Schneeschuhe an die Füße, spannt er den Bogen, stellt er das Netz, erlegt er die Schatten gewesenen Wildes, fängt er die Schatten gewesener Fische. Im Dunkel der Nacht tritt er in den Tschum seiner Familie, fügt er seinen Nachgelassenen Gutes und Böses zu. Sein Lohn ist, seinem eigenen Fleisch und Blut Wohlthaten zu erzeigen; seine Strafe besteht darin, seinen Angehörigen fortdauernd Böses zufügen zu müssen.




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Allerseelen.

(Zu dem nebenstehendem Bilde.)

Willst du der Erde tiefstes Leid
Hin zu den stillen Gräbern tragen,
O, gehe nicht zur Frühlingszeit,
Geh in des Herbstes späten Tagen.

5
Geh, wenn die letzte Blume stirbt

Am Todeshauch der rauhen Lüfte,
Geh, wenn das letzte Blatt verdirbt,
Das kosend noch umschlang die Grüfte!

Geh, wenn die Trauerweiden kahl

10
Die letzten frost’gen Thränen weinen

Und ihre Blätter silberfahl
Sich kräuseln auf den Leichensteinen!

So steht der Mensch, an Hoffnung leer
Wie sie, gebeugt, den Blick nach unten,

15
Das Aug’ hat keine Thräne mehr,

Das Herz hat keinen Trost gefunden.

Aus ist das Spiel, kein Mißton dringt
Hinab bis zu des Müden Stätte,
Der letzte Erdenlaut verklingt –

20
Ja, wer’s schon überstanden hätte!
Dr. K. Ebersberger.




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Der Sprung im Glase.

Erzählung von Anton Freiherr v. Perfall.


1.

Die „Laura“ lag auf der Werft. Sie war schlimm dran, ein Engländer hatte sich im Kanal sehr ungalant gegen sie bewiesen. Man zweifelte lange Zeit, ob man überhaupt noch imstande sein werde, ihre alten, zerbrochenen Rippen wieder einzurichten. Aber der Reeder, der alte Christen Rungholt, gab nicht nach, er blieb dabei, die „Laura“ könne auch das Flicken vertragen. Sie war eine alte Liebe von ihm und an einem wichtigen Tage hatte sie einst ihren Namen erhalten, der ihm ein Stück von seinem Leben bedeutete. –

Christen Rungholt war schon nicht mehr jung gewesen, als er vor zwanzig Jahren Holde Buiksloot von den, „Halligen“ geehlicht hatte und mit ihrem Gelde – der alte Buiksloot war Besitzer von halb Oland, der fruchtbarsten der Inseln, und früher Vorsitzender des Seegerichtes für die „Halligen“, das hier seit alter Zeit seinen Sitz hatte – selbständiger Reeder geworden war. Um so größer war die Freude, als ihm Holde eines Tages ein echtes Nordseekind brachte, mit großen, feuchten Blauaugen, die leuchteten wie ein sonniger, freudiger Meertag. Er drückte es an seinen stachligen Seemannsbart, schob das Primchen bei Seite und gab ihm einen saftigen Kuß, darob das kleine Korallenmündchen sich gar bitter verzog. Plötzlich fuhr er zusammen, daß Holde ängstlich nach dem Kinde griff.

„Wie soll’s heißen, Holde?“ fragte er in einem jähen Tone, „rasch – rasch!“

Er sah sichtlich beängstigt auf die Uhr.

Holde erschrak. „Aber lieber Mann, es hat ja noch Zeit bis zur Taufe!“

„Es hat keine Zeit! Den Namen! Den Namen!“

Er hatte die Thürklinke schon in der Hand.

„Ich dachte – aber wie gesagt – ,Laura’ dachte ich –“

Schon war Christen Rungholt verschwunden, er lief, was er konnte, mit seinen schiefen kurzen Beinen der Werft zu. Ein mächtiges Schiff, von Gerüsten umgeben, leuchtete von weitem in frischen, noch feuchten Farben, der taktmäßige Schlag der Hämmer zitterte melodisch klingend durch die Luft.

Christen war außer Athem. „Halt! Halt! Nicht ,Oland’ – ,Laura’,“ schrie er von weitem.

Niemand schien ihn zu hören bei denn Getöse der Arbeit. Endlich stand er vor dem Schiffe; vorn am Bug arbeiteten zwei Männer auf einem hängenden Gerüste, unter dem Vordersteven leuchtete in Messing ein mächtiges „O“ in erhabener Arbeit.

„Halt, sage ich!“ schrie er keuchend hinauf. „‚Laura‘ soll es ja heißen! Donner und Wolken, ich kann doch mein Schiff nennen, wie ich will! Runter mit dem O, sage ich –,Laura’! Hört Ihr nicht?“

Kopfschüttelnd machten sich die Arbeiter daran, das O wieder abzustemmen.

„Mit den verdammten Frauenzimmern!“ brummte der eine von ihnen. „So ein stattliches Vollschiff – ,Laura’!“ Der Matrose oben am Bugspriet spuckte verächtlich einen braunen Saft über Bord.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 756. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_756.jpg&oldid=- (Version vom 18.9.2022)