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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Schlitten, und rings um den Marktflecken erwächst ein Tschum nach dem anderen, jeder einzelne umgeben von Schlitten, die mit dem veräußerlichen Erwerbe des Jahres schwer bepackt sind. Allmorgendlich zieht der Tschumbesitzer mit seiner Lieblingsfrau im vollsten Putze den Marktbuden zu, um Felle zu verkaufen, Waren zu erwerben. Man handelt, man feilscht, man versucht zu betrügen. Branntwein, dessen Ausschank und Verkauf zwar von Regierungs wegen streng verboten, der aber nichtsdestoweniger bei jedem Kaufmann, fast in jedem Hause von Obdorsk zu haben ist, umnebelt die Sinne, raubt den Verstand des Ostjaken wie des Samojeden und macht beide ärmer noch als die entsetzliche Renthierseuche. Branntwein weckt alle Leidenschaften des sonst leidenschaftslosen, gutmüthigen und harmlosen Ostjaken und wandelt den friedfertigen, freundlichen Gesellen zu einem wüthenden, sinnlosen Thiere um. Nach Branntwein lechzt der Mann, nach Branntwein die Frau; Branntwein gießt der Vater dem lüsternen Knaben, die Mutter der verlangenden Tochter in den Schlund; um Branntwein verschleudert der Ostjake seine mühselig erworbenen Schätze, seine ganze Habe, um Branntwein verdingt er sich als Sklave, um Branntwein verkauft er seine Seele, verleugnet er den Glauben seiner Väter. Mit Hilfe des Branntweines erlangt der unredliche Käufer zuletzt alle Felle des Ostjaken, und ledig derselben, mit leerem Beutel und wüstem Haupte kehrt der mit stolzen Hoffnungen nach Obdorsk gezogene, betrogene, um nicht zu sagen ausgeplünderte Mann heim in seinen Tschum. Er bereut seine Thorheit, seine Schwäche, faßt die besten Vorsätze, beruhigt sich dabei und denkt bald nur noch daran, wie vortrefflich er sich mit seinen Stammesgenossen unterhalten hat.

Wie für andere Geschäfte, so ist dieser Jahrmarkt auch oft die Stätte, wo die Heirathsverabredungen getroffen werden. Die Bestimmung der Eltern, nicht aber der Wille der Brautleute, schließt eine ostjakische Ehe. Auf Wunsch und Wollen des Bräutigams nimmt man vielleicht Rücksicht, gestattet einem Knaben wohl auch, seine Augen auf eine der Töchter seines Volkes zu werfen, sendet den Freiwerber aber nur in dem Falle zum Vater des Mädchens, wenn die eigenen Verhältnisse mit denen des künftigen Schwähers übereinstimmen. Die Jungfrau wird nicht befragt, schon aus dem Grunde nicht, weil sie, wenn man sie verlobt, noch viel zu jung ist, als daß sie mit Verständniß über ihre Zukunft entscheiden könnte. Hat doch auch ihr zukünftiger Gatte sein fünfzehntes Jahr noch nicht erreicht, wenn der Freiwerber um sie, die Zwölfjährige, anhält. Ist das Brautgeld, über dessen Höhe man sich oft erst nach langwierigen Verhandlungen einigt, bezahlt, so findet die Vermählung der jungen Leute statt. Im Tschum des Brautvaters stellen die Verwandten der Familie sich ein, um der Braut Geschenke zu bringen und aus der für jedermann zur Schau gestellten Morgengabe des Bräutigames solche entgegenzunehmen. Man kleidet die Braut in Festgewänder und rüstet sie und sich zur Fahrt nach dem Tschum des Bräutigams. Vorher hat man tapfer geschmaust von dem Fleische der frisch geschlachteten Renthiere nach üblicher Weise. Gekocht wurden heute nur einige unter dem Eise gefangene Fische; das Fleisch der getödteten Renthiere aß man roh, und wenn eines zu erkalten begann, empfing ein zweites den Todesstoß. Die Braut weint, wie es scheidenden Bräuten zukommt, will den Tschum, in welchem sie aufgewachsen ist, nicht verlassen und läßt sich erst noch tröstender Zusprache Aller hierzu bereit finden. Ein Gebet vor dem Hausgötzen ersteht den Segen Ohrts, des Himmlischen, dessen Zeichen Sornidud, das Gottesfeuer, in unseren Augen nur das knisternde Nordlicht, in vergangener Nacht blutroth am Himmel stand. Die scheidende Tochter wird begleitet von der Mutter, die ihr helfend zur Seite steht; mit der Tochter besteigt sie den Schlitten, die gestimmte zur Hochzeit eingeladene Sippe die ihrigen, und dahin in festlichem Gepränge, unter dem Geläut der Glöckchen, welche heute alle Renthiere an ihren reichsten Geschirren tragen, geht die hochzeitliche Fahrt.

Im Tschum des Vaters erwartet der Bräutigam die vor dem Vater und den Brüdern ihres zukünftigen Gatten heute wie immer das Gesicht züchtig mit dem Kopftuche verhüllende Braut. Ein neues Fest nimmt seinen Anfang, und erst spät in der Nacht trennen sich die Gäste, denen sich auch die Verwandten des Bräutigams zugesellt hatten. Am nächsten Tage aber bringt die Mutter die junge Frau in den Tschum des Brautvaters zurück. Doch schon einen Tag später erscheinen hier alle Sippen des Bräutigams, um sie wiederum für diesen zurückzufordern. Nochmals erfüllt Festjubel die rindenen Wände der Hütte; dann scheidet die Braut für immer aus dieser und theilt fortan mit ihrem Gatten allein oder mit diesem und seinen Eltern und Geschwistern, oder später mit einer zweiten Frau ihres Mannes den Tschum.

Hundertundfünfzig Renthiere, sechzig Felle vom Eis-, zwanzig vom Rothfuchs, ein großes Stück Kleidertuch, mehrere Kopftücher nebst allerhand Kleinigkeiten hatte einst der Gemeindevorsteher Mamru für seine Gattin gezahlt. Damals freilich waren noch bessere Zeiten gewesen und Mamru hatte ein Brautgeld im Werthe von mehr als tausend Silberrubeln wohl aufwenden können für eine ebenso stattliche als reiche Frau aus vornehmer Familie. Jetzt ist der Maßstab ein bescheidenerer geworden. Armer Leute Söhne zahlen als Brautgeld höchstens zehn Renthiere, Fischersöhne nicht einmal diese, sondern nur die nöthigsten Einrichtungsgegenstände des Tschums und theilen diesen oft mit mehreren Familien; zu einem Fest- und Freudentage wird aber auch ihre Hochzeit und dabei gegessen und geschmaust, soviel das geringe Vermögen zuläßt.

Arme Ostjaken nehmen nur eine Frau, reiche aber betrachten es als ein Recht des Wohlstandes, zwei oder mehr zu ehelichen. Doch wahrt sich auch dann noch die Erstgeworbene gewisse Vorrechte den anderen gegenüber, und die letzteren erscheinen mehr als ihre Dienerinnen, denn als gleichberechtigt mit ihr. Nur wenn ihr Kinder versagt sein sollten, mag es anders sein, denn Kinderlosigkeit gilt als eine Schmach für den Mann, und eine kinderlose Frau ist im Tschum eine beklagenswerthe Unglückliche.

Die Eltern sind stolz auf ihre Kinder und behandeln sie mit warmer Zärtlichkeit. Mit unverkennbarem Glück in Blick und Gebärde legt die junge Mutter ihr Erstgeborenes auf das weiche Wassermoos in der niedlichen Wiege aus Birkenrinde; sorglich schnürt sie die Decken zu beiden Seiten zusammen und bedachtsam umhüllt sie das Kopfende des kleinen Bettleins mit dem Mückenvorhange; aber ihre Reinlichkeitsliebe läßt viel zu wünschen übrig. So lange das Kindlein noch klein und unbehilflich ist, wäscht und reinigt sie es allerdings, wenn sie glaubt, daß beides unerläßlich sei; wenn es größer geworden ist, wäscht sie nur einmal täglich Gesicht und Hände, eine Hand voll geschabter Fasern aus dem Holze der Weide als Schwamm, eine andere, trockene als Handtuch verwendend, sieht dann aber ohne jegliche Erregung zu, wenn das kleine Wesen, welches jederzeit Gelegenheit findet, sich zu beschmutzen, in einer uns fast undenkbaren Unsauberkeit einhergeht. Erst wenn der junge Ostjake sich selbst zu helfen vermag, endet allmählich solcher Mißstand; kaum einer aber hält es auch dann für nöthig, nach jeder Mahlzeit sich zu waschen, und mag dieselbe auch noch so blutig gewesen sein.

Die Kinder ihrerseits hängen ebenso zärtlich und treu an ihren Eltern wie diese an ihnen, sind auch in anerkennenswerther Weise folgsam und dem Willen ihrer Erzeuger unterthan. Ehrfurcht gegen die Eltern ist das erste und vornehmste Gebot der Ostjaken, Ehrfurcht gegen die Gottheit wohl erst das zweite. Als wir Mamru, dem erwähnten Gemeindevorsteher, den Rath ertheilten, seine Kinder in der russischen Sprache und Schrift unterrichten zu lassen, erwiderte er uns, daß er den Nutzen solcher Kenntnisse wohl einsehe, jedoch fürchten müsse, daß seine Kinder dann vergessen könnten, Vater und Mutter zu ehren, und damit das wichtigste Gebot des Glaubens verletzen möchten. Dies mag der Grund sein, weshalb kein einziger Ostjake, welcher noch dem Glauben seiner Väter anhängt, mehr erlernt, als sein Zeichen, einen Krikelkrakel, auf Papier zu malen, in Holz oder in das Fell der Renthiere einzuschneiden. Und doch lernt er, als höchst anstelliger und geschickter Mensch, so rasch und leicht, was ihn gelehrt wird, daß er in dem frühreifen Alter, in welchem er verheirathet wird, alles versteht, was zur Begründung und Erhaltung eines Haushaltes erforderlich ist.

Der Glaube des Volkes ist einfach und kindlich. In den Himmeln thront Ohrt, dessen Name so viel wie „Ende der Welt“ bedeutet. Er ist ein allmächtiger Geist, welcher nur dem Tode gegenüber keine Macht hat, den Menschen wohlwollend zugeneigt, Geber des Guten, Spender der Renthiere und Fische und Pelzthiere, Feind des Bösen und Rächer der Lüge, streng nur dann, wenn ihm Versprochenes nicht gehalten wird. Ihm feiert man Feste, ihm opfert und zu ihm betet man; seiner gedenkt der Flehende, welcher sich vor ein heiliges Bild stellt. Böse Geister wohnen im Himmel wie auf Erden, aber Ohrt ist mächtiger als sie alle; nur der Tod ist mächtiger als er. Ein ewiges Leben nach dem Tode giebt es nicht, eine Auferstehung ebenso wenig;

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