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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Wahrhaftig – Flieder – und Veilchen – und Maiblumen – und sonst noch allerlei!“

„Ja, ja,“ sagte der Dienstmann, „solch ’ne Bescherung habt Ihr wohl noch nie hier im Gefängniß gehabt! Da muß einer lieb’ Kind bei den hohen Herren sein, oder aber, sie machen ihn bald ’nen Kopf kürzer und thun ihm zuguterletzt noch dies und das an. So soll’s ja immer sein, wenn einer zum Tod verurtheilt wird. Aber Blumen für so ’ne Kanaille, na, das müßt’ mich trösten! Guten Tag auch!“

Damit schob er sich zur Thür hinaus.

Remmler setzte mit einem Seufzer sein Pfeifchen weg.

„So, Mutter, ich muß das gleich ’rüber besorgen! Gieb mir das Gretchen mit.“

„Das Gretchen? Zu einem Mörder?“

„Das Gretchen zum Tragen von den Blumen! Laß’ doch den armen Sünder ihr liebes, unschuldiges Gesichtchen sehen!“ Er öffnete das Fenster, das auf ein kleines, sorgfältig bestelltes Gärtchen sah.

„Gretchen!“

„Ja, Vaterchen!“ gab eine Kinderstimme zurück.

„Komm’ einmal herein! Ich hab’ was für Dich zu thun!“

Ein blondes Kind von zwölf Jahren, dem der dicke Zopf über den Rücken hing, kam in die Küche gesprungen und blieb wie versteinert an der Schwelle stehen.

„Ach, die Blumen!“ sagte es endlich ganz gepreßt. „Die himmlischen Blumen! Vaterchen, wer soll die denn haben?“

„Einer von den armen Gefangenen, Grete! Unser Herr Pfarrer, schickt sie ihm!“

„Der Herr Pfarrer! Vaterchen, er hat neulich mit mir gesprochen, ganz lange, kann ich Dir sagen. ‚Bist Du Gretchen Remmler?‘ fragte er zuerst und wie alt ich bin – wo ich zur Schule geh’ – ob ich schon der Mutter helfe – und über meinen Zopf hat er sich so gefreut! So schön und so gut, wie der aber auch ist, ist kein anderer Prediger! Und nun sollen wir zusammen die Blumen hintragen, ja?“

„Jawohl, Grete! Hier, such’ aus, was Du am leichtesten tragen kannst, die schweren nehme ich!“

Vater und Tochter hatten einen ziemlich weiten Weg von der Schließerwohnung bis zu der Abtheilung für die „schweren Gefangenen“. Treppauf und -ab ging’s, über lange, halbdunkle Gänge und wunderliche Winkel – das Gefängniß war ein altes, weitläufig gebautes, wetterfestes Haus – oft mußte Gretchen ihre blühende Last absetzen, um ein wenig Athem zu schöpfen. Endlich war man an Ort und Stelle. Remmler setzte alle Töpfe zur Erde, hieß sein Töchterchen dasselbe thun und öffnete die Zellenthür mit einem Schlüssel des umfangreichen Bundes, den er am Gürtel trug.

Schönfeld saß, mit beiden Ellbogen aufgestützt, an seinem Tisch und las. Er war so vertieft, daß er seine Augen erst von dem Buch erhob, als Remmler dicht vor ihm stand.

Er empfand eine gewisse Vorliebe für den Schließer, der seine Gefangenen nie, um sich ein Ansehen zu geben, barsch anließ, auch nie mit seiner Stellung Mißbrauch trieb, sondern die Leute alle ohne Ausnahme mit immer gleicher, etwas wortkarger, aber nicht unfreundlicher Art behandelte.

„Zu solch’ ungewöhnlicher Stunde, Herr Remmler?“ fragte der Gefangene erstaunt.

„Sehen Sie nur, was ich Ihnen bringe!“ sagte der Schließer lächelnd. „Komm’ herein, Grete!“

Und sie kam und schleppte mit freudestrahlendem Gesicht eins nach dem andern herein: Veilchen und Maiblumen, Tazetten, Hyazinthen und das Fliederbäumchen; nacheinander stellte sie alles auf dem großen schlichten Holztisch auf, und dann trat sie zurück und sah dem Gefangenen nach den Augen.

Die leuchteten ganz seltsam, wie sie nach den Blumen schauten, – sie hatten wohl lange keine mehr erblickt. Scheu stand der Mann, der nicht gezögert hatte, ein Menschenleben zu vernichten und seine Hände nach fremdem Eigenthum auszustrecken, gleichviel, zu welchem Zweck – scheu stand er von fern und sah zu den Blumen hinüber, die ihren lieblichen Duft ebenso verschwenderisch in der Zelle des Verbrechers ausströmten wie vor wenigen Stunden in dem reizenden Boudoir der schönen Annie Gerold.

„Unser Herr Prediger schickt sie!“ unterbrach endlich Remmler die tiefe Stille.

Der Gefangene neigte ein wenig sein Haupt zum Zeichen, daß er verstanden habe, und sagte nach einer kleinen Weile, wie zu sich selber redend:

„Hab’ ich doch den Anblick noch vor meinem Tode!“

Remmler winkte ihm mit den Augen nach Gretchen hin, er möge nicht weiterreden, zugleich vernahm man aus der gegenüberliegenden Zelle ein anhaltendes starkes Klopfen gegen die Thür und eine dumpfe Stimme, die unverständliche Worte rief.

Der Schließer öffnete die Thür zum Flur und horchte hinaus.

„Herr Remmler!“ klang es jetzt vernehmbar herüber. „Sind Sie nicht hier? Ich habe doch deutlich Schritte gehört, und Ihren Tritt kenne ich ja!“

„Ich bin hier!“ rief Remmler zurück. „Was wollen Sie von mir?“

„Bitte, kommen Sie auf ein paar Minuten zu mir, ich habe Ihnen etwas zu sagen!“

Der Schließer blickte unschlüssig von Schönfeld auf Gretchen.

„Wo soll ich Dich solange lassen, Kind?“

„Mich?“ fragte die Kleine verwundert. „Ich bleibe hier, Vaterchen, und helfe, die Blumen ordentlich aufstellen!“

„Nun gut! Ich werde mich beeilen, bald wiederzukommen!“ Damit ging er, die Thür hinter sich verschließend.

Gretchen Remmler war klein für ihre zwölf Jahre, ein zierliches, zartes Kind. Das schönste an ihr waren die großen blauen Kinderaugen, in denen ein ganzer Himmel von Unschuld und Güte lag. Eltern, Lehrer, Mitschülerinnen, Gespielen – keines von ihnen konnte dem Blick dieses Kindes auf die Dauer widerstehen, es war, als sähe man durch einen krystallklaren Spiegel geradeswegs in das kleine Herz hinein, wie es nur Wohlwollen, Vertrauen und Liebe in sich barg.

Mit diesen Augen blickte das Kind jetzt an dem vor ihm stehenden Mann in die Höhe, und diesem wurde seltsam zu Muthe dabei. Immer, von Jugend auf schon, hatte er Kinder lieb gehabt und sich gern mit ihnen abgegeben. Kinder und Blumen! Eine merkwürdige Liebhaberei eines zum Tode verurtheilten Einbrechers und Mörders!

Plötzlich kam ein banger, ängstlicher Ausdruck in Gretchens Gesicht, sie erinnerte sich der halb geflüsterten Worte des Mannes, der da vor ihr stand, als er die Blumen gesehen hatte, und wie der Vater ihm ein Zeichen gemacht hatte, er solle schweigen … das hatte sie recht gut bemerkt!

Sie setzte ein paar Mal an, um zu sprechen, und ihre kleine Brust hob und senkte sich rasch unter ihrem beschleunigten Athem. Endlich fragte sie stockend und so leise, daß Schönfeld sich tief zu ihr niederbeugen mußte, um sie zu verstehen:

„Ist das wahr, was Du eben gesagt hast, daß Du sterben mußt?“

Es that dem Mann leid, daß die Kleine seine Worte verstanden hatte, aber nun war es zu spät! Sie würde andere fragen und dennoch die Wahrheit erfahren, selbst wenn er sie ihr jetzt verschwieg. Und so nickte er und sagte: „Ja!“

Das Kind sah ihn scheu von der Seite an, und es war, als wenn es von ihm zurücktreten wollte, aber dann bezwang es sich und fagte sehr ernst:

„Betest Du denn auch viel zum lieben Gott, daß er Dich in seinen Himmel hineinnimmt?“

Ein bitteres Lächeln verzog die Züge des Gefangenen.

„Von so bösen Sündern, wie ich einer bin, will Dein lieber Gott gar nichts wissen, mein kleines Mädchen.“

Furchtlos, mit leuchtendem Blick, sah ihm das Kind von neuem ins Gesicht.

„Dann weißt Du nichts von ihm und kennst ihn gar nicht, wenn Du das sagen kannst! Liest Du denn nie in der Bibel? Da steht von so vielen Bösen, die alle schwere Sünden gethan haben, und der liebe Gott hat ihnen doch verziehen und sie alle, alle in den Himmel genommen. Und wenn unser Herr Prediger Dir verziehen hat – verziehen muß er Dir haben, hätte er Dir sonst all’ die Blumen geschenkt? – wie soll Dir unser Gott nicht verzeihen, der tausendmal besser und schöner ist als alle Menschen auf der Welt zusammen? Siehst Du wohl, jetzt thut es Dir leid!“

Gretchen war allmählich in Eifer gerathen, und tausendmal beredter als ihre Worte sprachen ihre Augen, aus denen die heiligste, unerschütterlichste Ueberzeugung redete, die nur aus einem gläubigen Kinderherzen kommen kann. Und als sie nun

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