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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

auf sie einen Pfingstgeist herabbeschwor, daß sie in ungewohntesten Zungen reden lernte; aber als bleibender Schatz unserer National-Litteratur sind diese zahlreichen Aneignungen, Nachdichtungen und Neudichtungen nicht zu betrachten, weder die plauderhaften „Makamen“ des Hariri mit ihrer unerschöpflichen Reimfülle, noch die ältesten arabischen Volkslieder des „Hamâsa“, noch die „Morgenländischen Sagen und Geschichten“, noch die „Brahmanischen Erzählungen“. Sie sind erfreulich und lehrreich für alle, welche dem Schriftthum und der Gedankenwelt der östlichen Völker ihre Theilnahme zuwenden; aber diese Theilnahme ist doch auf eine kleinere halb- oder ganzwissenschaftliche Gemeinde beschränkt. Kaum wird ein größeres Publikum sich hinreißen lassen von der in ihrer Art einzigen, geradezu meisterhaften Uebersetzung der indischen Gitavoginda, die nicht einmal in seine Werke aufgenommen ist, deren stürmischer Cymbelschlag und wie mit Phönixschwingen gerüsteter Dichterflug in den langathmigen, aber nie ermüdenden Verszeilen kaum seinesgleichen hat in unserer Dichtung. Doch zwei Erzählungen, eine dem indischen, die andere dem persischen Heldengedicht entnommen, haben, die erstere durch die Anmuth, die zweite durch die heldenhafte Kraft des Stoffes und der Darstellung, bei uns eine Art von Bürgerrecht gewonnnen: die Erzählungen „Nal und Damajanti“ und „Nostem und Suhrab“.


Friedrich Rückert.
Nach dem Denkmal in Schweinfurt von W. Rümann.


Wir sind dem Dichter in die Fremde gefolgt, um die Edelsteine, die er dort gefunden und künstlerisch eingefaßt hat, zu prüfen – suchen wir ihn jetzt in der Heimath auf; denn auch aus dem deutschen Leben heraus hat er gedichtet und auch hier Bleibendes geschaffen. Am volksthümlichsten ist sein „Liebesfrühling“ geworden, dessen Blumen auf deutschen Wiesen gepflückt sind. Alle diese Lieder haben zarte Innigkeit und anmuthenden Fluß, nichts von dem Schwerflüssigen, was bisweilen der Muse Rückerts eigen ist; es ist deutsche Volks- und Minnepoesie. Nicht bloß Zeichner haben dies Liebesalbum ausgestattet; auch Komponisten haben diese Lieder in Musik gesetzt, eine Ausnahme bei dem gedankenernsten Wesen des Dichters, an dessen oft spröde Formen die Tonkunst sich selten gewagt hat. Auch der „Liebesfrühling“ Rückerts gehört zum Hausschatz unseres Volkes. Was seine patriotischen Lieder aus der Zeit der Befreiungskriege betrifft, so werden die „Geharnischten Sonette“ durch die Eigenart, mit welcher hier die weiche italienische Strophenform behandelt und in den rauhen Kriegsdienst hineingezwungen ist, sowie durch den markigen Schwung, der sie auszeichnet, stets Interesse erwecken, während die bänkelsängerartigen Spottverse auf die Napoleonischen Marschälle und andere volksthümliche Ergüsse aus jener Zeit jetzt kaum noch Widerhall finden dürften. Dauernden Werth aber hat sein Liebesidyll „Amaryllis“ mit seiner frischen Natur- und Landwüchsigkeit, das so recht im Gegensatz steht zu dem aufgeschminkten Salontirolerthum der gereimten und ungereimten Arkadien; sehr schöne, prächtige Sonette enthalten die „Aprilreiseblätter“. Und neben „Die Weisheit des Brahmanen“ treten seine „Haus- und Jahreslieder“, ein dichterischer Hauskalender aus dem Musensitz Neuses, voll beschaulicher Lebensweisheit, die aber ganz im deutschen Boden wurzelt. Gern verweilt man mit dem Dichter in der Hainbuchenlaube seiner Freudenfrohburg und erfreut sich an der wechselnden Beleuchtung der Tages- und Jahreszeiten, die sich in diesen Gedichten widerspiegelt, oder folgt dem Familienvater an den häuslichen Herd, wo er patriarchalisch waltet, seine Kinder lehrt und ihnen wehrt.

Auch diese Chronik ist so unerschöpflich wie „Die Weisheit des Brahmanen“, aber nicht so tiefsinnig; es läuft manche Reimspielerei, manches Alltägliche und Hausbackene mit unter; aber die Weisheitsfrüchte, die er gleichsam von den Obstbäumen seines Hausgartens schüttelt, haben doch etwas Wohlschmeckendes, Saftiges, Aromatisches, und es finden sich unter diesen Kalendertagen solche, die roth angestrichen werden müssen als Festtage der Rückertschen Muse. Auch unter Rückerts einzelnen Gedichten sind glückliche Treffer, formgewandte und gedankenschwere Ergüsse, und es wechseln feurige Hymnen mit niedlich geschnitzten Nippfiguren, wie „Die Göttin im Putzzimmer“. Was er aus Italien heimbrachte, die kunstvollen italienischen Strophen, deren Verschlingungen er mit meisterlicher Zwanglosigkeit beherrschte, zeugt von der Vielseitigkeit seiner Bildung und seines Talentes; aber der markige Zug seiner Eigenart fehlt darin.

Wir Deutschen haben Dichter, die überreich sind und ihren Reichthum nicht zu Rathe zu halten verstehen. Das sangen schon Schiller und Goethe von einem andern Sohn des Franken- und Mainlandes, Jean Paul. Rückert ist ihm verwandt in nimmer versiegender Geistesfülle; mit den Gedanken dieser beiden Dichter allein ließ sich die umfangreichste Spruchsammlung füllen. Solche Genien sind echt deutscher Art, die Zierde und der Stolz unseres Volkes; ihr Gedankenreichthum strömt aus dem innersten Herzen desselben heraus, und indem wir sie ehren und feiern, huldigen wir dem Genius unserer Nation.

Kein Dichter ist so weit umhergewandert bei fremden Völkern und keiner so echt deutsch geblieben wie Rückert; sein Herz schlug seinem Vaterlande. Nicht bloß die Freiheitskämpfe hat er besungen in seiner Jugend, nicht bloß dem kämpfenden Schleswig-Holstein noch in hohem Alter Blumen in den Lorbeer geflochten – er hat auch fest geglaubt an die Wiedergeburt Deutschlands, die mitzuerleben ihm nicht vergönnt war; voll kühner Begeisterung erklang sein prophetisches Dichterwort:

„Du Volk der Deutschen, Phönix sondergleichen,
Du bist mit Ruhm gealtert ein Jahrtausend,
Doch niemand soll mit Hohn sehn deine Leichen.
Besteig’ den Holzstoß, nicht vorm Tode grausend!
In Flammen soll dir Schwäch’ und Alter weichen,
Und, du hervorgehn, neu in Jugend brausend!“

Und auf dem Boden dieses zu neuer Tugend wiedererstandenen Deutschen Reichs erhebt sich jetzt das Denkmal des Dichters, seinen Enkeln kündend die Verehrung unseres Volkes für einen Hohenpriester des Geistes! G.     


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 736. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_736.jpg&oldid=- (Version vom 19.6.2023)