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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Ich muß eine schlecht beleuchtete Treppe hinaufsteigen, die mir nur zu genau bekannt ist. Auf den Stufen begegnen uns zwei Herren. Ein kleiner, jovial aussehender, beleibter Mensch ruft, ohne sich durch mich beirren zu lasen: „Ah, die Pfarrerstochter in Weiß! Wohin denn, mein Täubchen? Wieder zum Alten? Laß Dich nicht blicken bei ihm, er ist rasend wüthend auf Dich!“

Der andere, ein schlanker, hochgewachsener junger Mann, dessen Gesicht, soweit ich’s beurtheilen kann bei dem Dämmerlicht, einen idealen Typus zeigt, ungefähr wie Byrons Porträt aus seiner Jugendzeit, ist, den Hut in der Hand, zurückgetreten und läßt uns vorüber.

„Sei nicht so thöricht, Martha,“ murmelt er, und seine Augen blicken sie zürnend an.

„Ist er oben?“ fragt sie anstatt der Antwort.

Er nickt kurz und fixirt mich mit einem kühlen, fast feindseligen Blick. –

„Wer sind die beiden, Martha?“

„Der Kleine – unser Komiker.“

„Und der andere, Martha?“

„Der erste Liebhaber,“ stottert sie.

„Und die dutzen Dich?“

Sie wird glühend roth. „Wir dutzen uns alle untereinander,“ sagt sie, „das ist so Sitte.“

Im nächsten Augenblick stehe ich vor dem Gestrengen in der kleinen Mansardenstube; sie ist draußen geblieben.

„Meine Gnädigste,“ erwidert er auf meine Bitte, „Sie wollen doch nicht verlangen, daß – aber Gnädigste können ja unsere Verhältnisse nicht beurtheilen! Stellen Sie sich vor, es regnet morgen, dazu spielt Fräulein Martha Steinkopf, die durch verschiedene Vorkommnisse in hiesiger Stadt ein riesiges Interesse erregt, erregen muß; was ist die Folge? Ein ausverkauftes Haus –! Meine Gnädige, gerade so gut könnten Sie zu einem Landwirth sagen, er solle aus irgend einem unvernünftigen Grunde sein Heu nicht einfahren lassen, obgleich die Sonne scheint.“

„Ich biete Ihnen Ersatz, Herr Direktor.“

Er sieht mich lächelnd an mit den halbverschleierten grauen Augen. Er steht da wie eine sehr schlechte Nachäffung von Friedrich Haase in irgend einer Lustspielrolle, die linke Hand unter der Weste verborgen, die andere auf den Tisch gestützt. „Ich bin außer stande, den Schaden auch nur annähernd zu berechnen, der mir erwachsen könnte, gnädige Frau; auch hätte ich mit dem besten Willen keinen Ersatz für eine derartige Rolle. Gnädige sollten uns die Ehre schenken und sich das Spiel der Kleinen ansehen.“

„Danke sehr! Wenn Fräulein Tosca nun aber krank wird, wie dann, Herr Direktor?“

„Ah, meine Dame, das sind abgebrauchte Witze. Sie kann sechs Wochen hindurch nicht jeden Abend einen Krampfanfall vorgeben; einmal muß sie hier zuerst an die Lampen, und – je eher, je besser. Außerdem war ich bereits beim Kreisphysikus und sagte ihm für einen derartigen Fall Bescheid. Lassen Sie sie nur getrost hier spielen; später, wenn durchaus Ihr Herz nach Fräulein Tosca von Korinska verlangt, will ich sie Ihnen ohne Entschädigung überlassen.“

Er lacht und zieht die Uhr und legt einige Broschüren von einem Platz des Tisches auf den andern.

„Was soll das heißen?“ frage ich.

Er zuckt die Schultern. „Daß im Leben nichts aus ihr wird,“ sagt er geringschätzig, „kein Funke von Talent, kein Feuer, nicht eine Ahnung davon, wie sie sich zur Geltung zu bringen hat.“

‚Sie wäre ganz unbefähigt?‘ frage ich athemlos.

„Ganz,“ erwidert er. „Es ist ja auch nicht anders möglich; das ursprüngliche Talent ist erstickt in den frommen Tabakswolken der pfarrherrlichen Studierstube. – Nichts Halbes – nichts Ganzes – gar nichts! Konfirmandenmanieren statt naiver Frische, und bei tragischen Scenen ein Betstundengesicht; ganz unmöglich für die Bühne, rein unmöglich! Die Mutter, der sie so ähnlich sieht, ja, da war Rasse drin! O, das wäre ein Stern ersten Ranges geworden!“

„Aber, Herr Direktor, wenn dem so ist –“

„Hier muß sie spielen, Madame, ihr Vertrag läuft bis Johanni, und hier füllt ihr Name das Haus derartig, als wäre sie irgend eine große Berühmtheit.“

„Wenn Sie, Herr Direktor, auf meinen Wunsch eingehen und den Vertrag sofort lösen, zahle ich Ihnen dreitausend Mark,“ sage ich kühl. „Sie können mir Ihre Entscheidung bis heute abend zukommen lassen. Leben Sie wohl!“

Es kommt mir vor, als sei die ehrfurchtsvolle Verbeugung des Mannes kein übles Zeichen. Er geleitet mich bis zur Thür und sagt: „Hab’ die Ehre, Frau Baronin – aber – ich würde ja sehr gern gefällig sein –“

„Leben Sie wohl, Herr Direkor!“

Sie sitzt draußen noch auf der Treppe, auf dem nämlichen Platz, wo ich das erste Mal ein kleines süßes Kind gesehen habe. „Komm mit in mein Zimmer!“ bitte ich. Dort unten spreche ich: „Ich hoffe, er besinnt sich, Martha; laß den Kopf nicht hängen! Ueberdies, man kann Dich doch unmöglich an den Haaren auf die Bühne ziehen. Wie gesagt, ich denke, er giebt Dich frei, und Du fährst dann morgen früh mit mir fort. Und hör’, mein Deern, im Gedenken daran, daß Du meiner Elisabeth theuer warst, werde ich Dich zu mir nehmen, natürlich in der Voraussetzung, daß Du – der Direktor sagt mir, Dein Vertrag läuft bis zu Johanni –“

Ich breche auf einmal ab. Des Mädchens Hände sind niedergesunken, funkelnd treffen mich die schwarzen Augen.

„Ich will nicht,“ sagt sie barsch, „denn ich liebe meine Kunst, ich liebe sie über alles! Bei dieser Truppe wäre ich so wie so nicht geblieben, ich gehe an das fürstliche Theater zu D., Se. Durchlaucht selbst hat mir das Versprechen gegeben, daß ich angestellt würde.“

„Kind!“ schreie ich entsetzt, „weißt Du denn nicht, was es heißt, bei diesem Fürsten in Gunst zu stehen?“

„Nein,“ erwidert sie, „Durchlaucht ist hinter die Coulissen gekommen, hat mich gelobt und mir versprochen, daß –“

„So sehr gefiel ihm Dein Spiel?“ frage ich ironisch.

„Ja!“ sagt sie stolz, „und ich weiß, ich habe gut gespielt an jenem Abend. Nein, Tante,“ fährt sie fort und tritt mit gefalteten Händen vor mich hin, „denke nicht, daß ich meinen Beruf verachte – ich schwärme für ihn, ich möchte ihm nicht entsagen um allen Luxus der Welt, den ich bei Dir haben würde, um alle Güte nicht, mit der Du mich dulden würdest, ich bin mit Leib und Seele Künstlerin. Nur hier, hier kann ich nicht spielen; ich weiß es, ich würde wie gelähmt sein. Ach, Tante, erbarme Dich, was soll ich beginnen, ich kann das den Eltern nicht anthun.“

„Und konntest ihnen doch weit Schlimmeres anthun!“ mahne ich streng. „Weißt Du, daß Deine Pflegemutter in Melancholie verfallen ist, und daß Dein Vater, der Dich wie ein eigenes Kind an sein Herz genommen hatte, ein gebrochener Mann geworden ist?“

„Ach, Tante, ich will mein Leben hingeben, um es wieder gutzumachen, aber nicht meine Kunst!“

Ich zucke die Achseln; was soll ich sagen?

„Du bist böse auf mich, Tante,“ stammelt sie, „Du glaubst nicht an meinen Beruf!“ Und mit thränenerstickter Stimme fährt sie fort: „Ich habe ja auch Stunden, in denen ich vor Sehnsucht nach den Eltern sterben möchte, nach dem alten trauten Hause. Wie oft bin ich im Traum darin! – Tante, verdamme mich nicht ganz; sage es den Eltern, ich sei gut geblieben, ich wolle lernen und streben. Und wenn ich zu der Stufe gestiegen bin, die ich mir vorgesteckt habe, dann will ich kommen und Euch alle um Verzeihung bitten. Tante, es kann doch jeder Stand ehrenwerth sein!“

Sie ist mir etwas näher gekommen und macht eine Bewegung, als ob sie ihren blonden Kopf an meine Schulter schmiegen möchte, um „Tanting, goldenes Tanting“ zu sagen wie einst. In ihren großen sprechenden Augen liegt etwas wie Heißhunger nach Zärtlichkeit und Liebe, aber sie wagt nicht, mich zu berühren; ich ziehe sie endlich zu mir heran und streichle sie, und da fängt sie an zu weinen.

Sie ist so jung noch, so voller Ideale; noch liegt ein Hauch der frommen Kindertage über ihr, als sie auf des Vaters Knieen saß und die Bilderbibel besah und die Mutter ihr die kleinen Finger an die Stricknadeln fügte; noch liegt er über ihr, jener Hauch, wie duftiges echtes Schaumgold auf einem Weihnachtsapfel – aber wie lange noch?

„Geh wenigstens nicht nach D. an das fürstliche Hoftheater, Martha,“ sage ich rauher, als ich gewollt, „ich meine es gut mit Dir. Lieber bleib bei Deiner Wandertruppe!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 732. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_732.jpg&oldid=- (Version vom 18.6.2023)