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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

‚Natürlich, Kathrin, ’s ist bloß das, daß einer immer nur auf seine besondere Art glücklich werden kann.‘

‚Wirst schon auch noch glücklich werden, mein Aepfelchen.‘

‚Das will ich auch, Kathrin!‘ ruft sie laut, und in den Augen leuchtet’s auf, ‚das will ich auch!‘

Dann hat sie die Arme um meinen Hals geschlungen und gesagt: ‚Gute Kathrin, betest Du denn noch immer für mich abends wie früher, als ich noch klein war?‘

‚Ja, mein Käferchen, freilich, immer, jeden Abend.‘

‚Dann thue es auch fernerhin, liebe Kathrin, bitte, bitte!‘

Und dann hat sie mich noch einmal geküßt, und dabei ist mir ein heißer Tropfen auf dem Gesichte zurückgeblieben, und ehe ich mich noch besinnen kann, ist sie fort.“

Die alte Frau schluchzt jetzt ganz laut.

„Madame,“ stößt sie hervor, „wie ich’s erfuhr von der Ernestine am andern Morgen, daß sie mit in die Welt gelaufen ist, ins Elend hinein, da haben mich Schreck und Schmerz und Angst so gepackt, daß ich noch am selbigen Abend in gänzlicher Bewußtlosigkeit gelegen habe; und das hat Wochen gedauert. Ich hab’s nicht mit erlebt, was die Eltern sagten, als sie das leere Nest fanden, ich weiß nicht, wie groß der Aufruhr in der Stadt gewesen ist, und ob der Herr Pfarrer Schritte gethan hat, um sie zurückzuzwingen – nichts weiß ich, gar nichts! Als ich wieder klar denken konnte, da lag Schnee auf den Dächern und die Wintersonne schien durch die Eisblumen an meinen Fenstern; und drunten im Wohnzimmer, da saß die Frau und sah auf die Straße hinaus, ganz still und ruhig, und ihr Haar war so weiß wie der Schnee da draußen. – Kein Wort des Vorwurfs habe ich gehört, und als ich erzählen wollte, da hat der Herr Pfarrer nur die Hand gehoben und Schweigen gewinkt.“ –

Eine lange Pause entstand; ich erhob mich und trat zum Fenster, um es zu schließen, denn die Nachtluft wehte kühl herein. Dann blieb ich stehen. Ja, so ungefähr hatte ich es mir gedacht. Das ererbte Blut, die Lust an diesem bald heiteren, bald so furchtbar ernsten Vagabondenleben hatte seine Rechte geltend gemacht. War denn das so wunderbar? Es geht ein Zauber von dem Wort „Theater“ aus, eine Poesie, die jedes junge Herz einmal berauscht, und nun gar ein Schauspielerkind! Die Kunst! die Kunst, und wären die Bretter noch so erbärmlich, wäre der Tempel auch in einer alten Scheune aufgeschlagen, die Kunst hält auch über dieses Elend ihre Hände und macht es zu etwas Zaubervollem. Ich selber hatte ja als Backfisch einmal Schauspielerin werden wollen, obgleich ich die Jünger und Jüngerinnen Thaliens nur ein einziges Mal in der Schenke meines heimathlichen Dorfes gesehen hatte, wo sie „Minna von Barnhelm“ aufführten. Der Abend steht mir noch heute als einer der stimmungsvollsten meines ganzen Lebens in Erinnerung. – Arme kleine Martha, mußtest Du wirklich, wie oll Kathrin sagt? Arme Elisabeth, die einsam blieb auf ihre alten Tage, deren Liebesmüh’ so verloren war!

Ich senkte den Kopf gegen die kühle Fensterscheibe und biß auf mein Taschentuch, um nicht laut zu schluchzen.

Da räuspert es sich hinter mir. „Madame,“ sagt oll Kathrin, „nun möchte ich nur noch fragen, wollen Sie dem Kind denn nicht ein paar gute Worte gönnen? Sie hat’s gehört, daß Sie hier sind, und meint, Sie könnten ihr helfen – sie hat nicht nachgelassen, bis ich –“

„Wie?“ frage ich athemlos, „Martha ist hier?“

„Ja, mit den Schauspielern; droben in der Mansarde, Madame. Deshalb kam ich ja zu Ihnen!“

Ich stehe sprachlos da, während die Alte schüchtern fortfährt: „Das arme Ding meint, der Herr Direktor würde auf Ihre Fürbitte erlauben, daß sie hier nicht aufzutreten braucht –“

„Hier soll sie spielen? Mit dieser Truppe ist sie hier?“

Ich fange an, im Zimmer auf- und abzugehen.

„Um Gotteswillen, das darf Elisabeth nicht erleben! – So rufen Sie sie,“ sage ich; „wie nennt sie sich jetzt?“

„Wie ihre Mutter hieß – Tosca von Korinska. Ach, sehen Sie, Madame –“

„Schon gut, Kathrin; holen Sie Fräulein Tosca von Korinska!“

Die alte Frau geht. Sie mag wohl mein aufgeregtes Wesen für Stolz halten, während es einfach Verlegenheit ist – wie soll ich die behandeln, die mir jetzt gegenübertreten will? Ich habe sie einst in den Armen gehalten, sie geherzt und geküßt, sie meinen Liebling, mein süßes Kind genannt; wie nun, nachdem sie Verrath an der Frau geübt, die mir so theuer ist wie eine Schwester? – Ich schelle und lasse noch eine Lampe bringen, denn ich will sie genau sehen, und gehe dann wieder im Zimmer auf und ab; es dauert eine Ewigkeit, bis sie kommt.

Endlich kopft es, und auf mein „Herein!“ öffnet sich langsam die Thür und eine Erscheinung tritt über die Schwelle, die ich kenne, die ich gesehen habe vor Jahren dort unter der Linde inmitten der singenden Studenten – nur schöner noch und jugendlicher ist die, die ich heute schaue! Wir stehen uns stumm gegenüber. Sie hat den Blick zu Boden geschlagen und sieht sehr bleich aus. Sie trägt ein gelblich weißes Kaschmirkleid – offenbar hat sie erst Toilette gemacht – wie sie es wohl in modernen Lustspielen auf der Bühne benutzt. Es hat billige geringe Spitzen an Hals und Aermeln und sieht aus, als wäre es vor ein paar Minuten aus der Kleiderkiste hervorgezerrt worden, so zerdrückt ist es. Die goldigen Haare aber liegen noch mit dem nämlichen einfachen Scheitel um den schön geformten Kopf, und die zwei prächtigen Zöpfe hängen noch ebenso über den Rücken herunter wie damals, als ich die „lütte Martha“ am Meeresstrand sah und meine Freude an ihr hatte. In einem sonderbaren Gegensatze stand diese kindlich einfache Haartracht zu dem modernen billigen Kleidertand.

Das ist Martha Steinkopf!

Ich weiß nicht recht, was ich aus ihr machen soll. Halb Theaterdämchen, halb vornehme Erscheinung – halb Weib, halb Kind. Wie alt ist sie denn eigentlich? Richtig, zwanzig Jahre; das Köpfchen aber wie das einer Sechzehnjährigen! Mir wird ganz wunderlich vor diesem Räthsel.

„Tante Anna,“ klingt es endlich zu mir herüber.

Ich kann nicht antworten. Wie es still bleibt, schlägt sie die Augen auf, in denen Thränen funkeln; ein flehender zärtlicher Ausdruck liegt auf ihrem Antlitz.

„Martha,“ sage ich, mit Gewalt die Rührung bekämpfend, die mich bei diesem Blicke überkommt, „ich hatte mir unser Wiedersehen anders gedacht –“

„Ach, Tante Anna – wenn Du wüßtest –“

„Setze Dich und sage mir, was Du von mir willst!“

„Tante Anna,“ beginnt sie hastig, „ich kann hier nicht spielen, ich glaube, ich würde wahnsinnig darüber; ich ertrage den Gedanken nicht, daß die Borndorfer in Strömen kommen, um Pfarrers Martha auf den Brettern zu sehen. Ich kann nicht spielen in der Erinnerung an den Vater und die Mutter, an die unschuldige selige Kinderzeit – ich – kann nicht!“

Sie hat die Hände vor das Gesicht geschlagen und weint. „Tante Anna, um der Mutter willen geh’ zum Direktor – Du bist ja reich – kaufe ihm mein Spiel ab – ich kann nicht!“

„Du bist ja nicht mehr Pfarrers Martha, armes Kind –!“

„Ja,“ ruft sie, „hier bin ich es, in der Erinnerung! Ach, Tante, jeder Stein hier kennt mich, jeder Baum im Walde und jedes Fenster in den Häusern schaut mir vorwurfsvoll ins Auge, ach – und die Menschen! Und, Tante, wenn der Vater das liest, was morgen auf dem Zettel steht! – Tante, sie dürfen nicht ausgetragen werden!“

„Was steht denn darauf?“

Sie reicht mir mit zitternder Hand ein Theaterprogramm: Faust – Margarethe * * * – wiederum drei Punkte, und ich lese:

„Die talentvolle junge Tragödin dürfte dem hochverehrten Publikum unserer kunstliebenden Stadt nicht unbekannt sein. Sie hat noch vor anderthalb Jahren in diesen Mauern geweilt als gehegtes und geliebtes Pflegekind eines unserer ersten Mitbürger. Die Liebe zur Kunst, die ihr angeboren – sie ist die Tochter jener unvergleichlich schönen jungen Schauspielerin, die vor Jahren hierselbst durch die Hand ihres eifersüchtigen Gatten einen raschen Tod fand – trieb sie aus dem friedlichen, aber eng begrenzten Kreis. Wie fast jedes bedeutende Talent mußte auch sie Fesseln brechen, ehe sie zur Freiheit gelangte, aber herrlich hat es sich gelohnt etc. etc.“

Es war noch eine lange Litanei.

„Wo ist der Direktor?“ frage ich.

„Ich will Dich hinführen, Tante Anna – ach, ich danke Dir!“

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