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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

„Ach, sei doch gut, Lieschen, ich bin auf köstlichen Entdeckungsreisen gewesen.“

Wir saßen schweigend im Garten; ich brachte das Gespräch auf unsere Jugend. „Weißt Du noch, lüttje Elisabeth, wie Du Plattdütsch lerntest?“

Sie nickte. „Ich kann das Gedicht auch noch, Anna,

‚Ik wull, wie weern noch kleen, Jehann,
Do weer de Welt so grot,‘“

sagte sie; „ich habe mich einmal damit abgequält, es ins Hochdeutsche zu übersetzen, aber es gelang mir nicht.

‚Mitünner inne Schummerntid
Denn ward mir so to Moth.
Denn löppt bi den langs den Rügg so hitt,
As damals bi den Sot‘ (Brunnen).

Ach ja, die Kinderzeit, Anna, sie ist heilig wie das Kind selbst.“

Sie schwieg, denn ihr Mann kam daher.

Erst heute abend achtete ich auf das Verhältniß der beiden zueinander, erst während des schweigenden Mahles fiel es mir mit Centnerlast aufs Herz: wie nahe und doch wie weit sind sich die beiden! Fast ängstlich mied sie es, ihn anzuschauen, während er ihre Blicke suchte. Sie hatte jede Aufmerksamkeit für ihn, die er, wie es schien, gewöhnt war; sie mischte ihm den Thee, sie strich ihm die Brötchen, sie antwortete auch auf seine Fragen, aber es war fast automatenhaft. Er schüttelte wiederholt stumm seinen Kopf, indem er sich bemühte, mit mir auf irgend eine Weise Unterhaltung zu machen. Es war wie gestern auch, nur auffälliger, nachdem ich Elisabeths Beichte gehört hatte.

Als es halb elf Uhr schlug, fand ich es genug der Marter, die ich ausgestanden, und erhob mich, um Gute Nacht zu sagen. Da kam im Mondenschein, der glänzend weiß auf dem kiesbestreuten Weg lag, die Kathrin dahergelaufen, so rasch, wie ich es ihren alten Füßen nicht mehr zugetraut hätte.

„Herr Pfarrer –“ sie konnte die Worte kaum finden, „Herr Pfarrer, Sie möchten rasch in die ‚Forelle‘ kommen, der eine Schauspieler hat seine Frau erstechen wollen! Ach, Herr Pfarrer, laufen Sie doch nur – ehe sie stirbt!“

Eilig schritt er hinweg. Ich saß starr neben Elisabeth da und wußte, als wäre ich dabei gewesen, den Hergang der ganzen Geschichte. Jedes Wort hätte ich dazu nennen können, jede Einzelheit der That. „Das arme Kind!“ rief ich, der Kleinen gedenkend.

Dann war ich aufgesprungen und wollte dem Hause zueilen.

„Ein Kind, Anna?“ fragte Elisabeth und hielt mich am Arme. „Hat die Frau ein Kind?“

„Ja, ein Mädchen, ein liebes kleines Geschöpf.“

„Und die Mutter stirbt?“ forschte sie athemlos weiter.

„Ich weiß ja nicht, Elisabeth; ich will nachsehen.“

„Warte, ich komme mit Dir –“

Nach ein paar Minuten langten wir vor der „Forelle“ an. Eine Unmenge Menschen stand dort und gaffte zu den Fenstern des Hauses empor, Leute, von der Pfingstfreude angeheitert, mit grünen Zweigen an den Hüten und erhitzten Gesichtern, Mütter, mit kleinen Kindern auf dem Arm, und junge Mädchen in hellen Kleidern, die vom Tanzsaal heruntergelaufen waren. Alle wollten sie das Unglaubliche hören, womöglich auch sehen. „Der Oberpfarrer ist vorhin ’naufgegangen,“ hörten wir sagen, „und der Bürgermeister – die Polizei auch –“

Unter der Linde, zu der wir uns jetzt mühsam durchgekämpft hatten, saß eifrig redend ein ganzer Kreis älterer Männer; aus den Fenstern des großen Tanzsaales, der nach dem Garten zu lag, zogen die wiegenden Klänge eines Walzers in die warme bratwurstdunstige Luft hinaus und übertönten das Klappern der Bierseidel. – Endlich waren wir im Hausflur; nur ein Polizeidiener stand da, der uns den Eintritt verweigern wollte, dann aber, als er Elisabeth erblickte, zur Seite trat.

„Sie ist schon todt, Frau Oberpfarrerin,“ sagte er.

„Wo ist das Kind?“ war Elisabeths Frage.

„Das Kind wird wohl bei den Schauspielerinnen sein auf Nummer sieben; die sind ja alle mit hergelaufen vom Theater.“

„Geschah das Unglück im Theater?“ forschte ich.

„Ja, Madame, mitten auf der Bühne – er hat da, glaube ich, was zu spielen gehabt mit ’nem Messer –.“

Elisabeth eilte jetzt die Treppe empor und öffnete, ohne erst anzuklopfen, die Thür von Nummer sieben. Ich werde den Anblick nie vergessen! Ein dünnes Talglicht auf einem Porzellanleuchter erhellte nothdürftig das ziemlich große Zimmer, und da saßen und standen wohl sechs bis sieben Frauenspersonen, nach im Theaterkostüm, mit Gesichtern, die unter der Schminke erblichen waren.

Frau Marthe, sie mußte es dem Aeußern nach sein, hielt das Kind auf dem Schoß; die andern, die jedenfalls zum Volk gehört hatten, in wunderlich zusammengestoppelten altdeutschen Kostümen, schienen das Schreckliche noch immer nicht glauben zu wollen – ich sah nie so entsetzte Gesichter.

„Ist das die Kleine der verstorbenen Frau?“ fragte Elisabeth.

Die alte Person in ihrer Matronenhaube fing statt der Antwort an, zu schluchzen. Das Kind, durch die verstörten Gesichter ängstlich geworden, begann leise zu weinen.

„Ist der Mann wirklich der Mörder?“ fragte die kleine Frau an meiner Seite, ohne die Augen von dem blonden Geschöpfchen abzuwenden.

„Ja!“ lautete die einstimmte Antwort.

„Er gab den Valentin,“ sagte ein junges Mädchen. „Sie hatten nach dem ersten Akt einen so argen Wortwechsel; er behauptete, sie habe immerfort mit einem Studenten geliebäugelt. Ich sah es ja auch, er saß mit zwei oder drei andern in der Prosceniumsloge. Sie hat’s ja immer so gemacht, und der Direktor war so eifersüchtig wie Othello.“

„Ja,“ bestätigte eine andere, „schon vor ein paar Wochen in E., da dachten wir, er schießt sie todt. Nun wird er ins Zuchthaus kommen.“

„Wenn nicht Schlimmeres –“ schluchzte Martha.

„Ja, der wird hingerichtet –“ klang es förmlich schaurig aus einer Ecke.

Der Aufschrei einer andern machte die schreckliche Prophetin verstummen.

„Nein,“ vertheidigte eine dritte, „sie hat ihn soweit gebracht! Meiner Seel’, ich will’s beschwören – ich –“

„Hat der unglückliche Mann oder die Frau Verwandte?“ unterbrach Elisabeth das Hin- und Herreden.

„Nicht ’ne Katze gehört zu denen.“

„Was wird aus dem Kinde?“ klang abermals Elisabeths Stimme.

„Ja, das wissen wir auch nicht.“

Und jetzt erhob Frau Martha ihre dünne kranke Stimme und wollte der Todten einen Nachruf halten, der uns entsetzte, so schwerer Beschuldigungen voll waren schon die ersten Worte.

„Schweigen Sie,“ sagte Elisabeth ernst, „wir sind allzumal Sünder, steht in der Bibel; vielleicht erinnern Sie sich des Wortes noch aus Ihrer Kinderzeit.“

Sie stand jetzt plötzlich dicht vor der verblüfften Frau und nahm ihr ohne weiteres das Kind aus dem Arm. „Komm!“

„Zu meiner Mama,“ weinte die Kleine und legte doch ihr Aermchen zutraulich um den Hals und das Gesichtchen mit den schlaftrunkenen Augen an die Wange meiner Elisabeth.

„Ja, zu Deiner Mutter,“ tröstete sie. Als sie sich zur Thür wandte, trat der Pfarrer ein. Er sah seine Frau an wie eine Erscheinung.

„Elisabeth,“ sagte er stockend.

„Ich behalte es,“ klang es leise und fest.

„Komm heraus mit ihm, der Vater will Abschied nehmen –“

Die Thür fiel hinter uns zu. Da stand auf dem Flur, umgeben von zwei Polizisten und dem Gendarm, ein großer schlanker, noch junger Mann, dem die Haare an der feuchten Stirn klebten, mit todtenbleichen Zügen.

„Aengstigen Sie sich nicht um das Kind,“ sprach Elisabeth mild, „ich will es getreulich pflegen, wenn Sie es mir lassen wollen.“

Die Augen des Mannes hefteten sich auf die sanften Züge der Frau, als forschten sie, wem er seinen einzigen Schatz auf dieser Welt jetzt anvertrauen sollte.

„Es ist die Frau Obepfarrerin, Sie können froh sein!“ flüsterte ein Polizist ihm mitleidig zu.

Da flog es wie ein erlösender Schein über das starre Gesicht. Er riß das weinende Kind in seine Arme und küßte es, als wollte er es ersticken, und als er es Elisabeth wiedergab, sagte er kaum verstäudlich: „Gesegne es Ihnen Gott, daß Sie Erbarmen haben mit dem Kinde eines Mörders und einer Ehrlosen!“

Es war, als rüttelten diese Worte mich wieder wach, denn bis jetzt hatte ich das alles mit angesehen wie im Traume. – „Elisabeth!“ sagte ich.

Es war still geworden; die Schritte des Gefangenen und seiner Wächter verhallten; nur sie, der Pfarrer und ich standen noch auf dem Flur. Sie antwortete nicht, sie band sich ein Tuch

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