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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Ich hielt sie fest. „Ja, sprechen wir gerade davon! Wenn Du noch einen Funken Freundschaft für mich besitzest, so stehe mir jetzt Rede und Antwort! Weshalb glaubst Du, daß Ihr Euch nicht mehr versteht, Elisabeth?“

„Er hat die Kinder kaum vermißt!“ stieß sie heftig hervor, „er liebte sie nicht, duldete sie nur; sie störten ihn – –“

„Um Gotteswillen, Elisabeth, wie ungerecht macht Dich der Schmerz!“ rief ich entsetzt.

„Nein, Anna, nein, nicht ungerecht; es ist leider die Wahrheit.“

„Elisabeth, bitte, sage, woraus Du das schließt.“

Sie zögerte noch ein Weilchen, dann begann sie stockend, mit fast heiserer Stimme. „Die beiden Jüngsten waren den Tag vorher begraben, aber der Junge war noch gesund. Ich hatte ihn in den Garten geschickt, damit er soviel als möglich ins Freie käme, um dem Ansteckungsstoff im Hause zu entgehen. Es war ein ungewöhnlich lebhaftes Kind. Ich stand am Küchenfenster und sah zu, wie er auf dem Rasen umher tollte; es war sonst den Kindern verboten, aber ich dachte heute nicht daran, ich hatte nur die Hände gefaltet und alles war bei mir ein Gebet: ‚Lieber Gott, laß mir den Einzigen, laß ihn mir!‘ – In Hermanns Studierstube, Du weißt, sie liegt nach dem Garten, hatte es schon ein paarmal an die Scheiben geklopft – ich glaube, Hermann arbeitete, er konnte arbeiten, er mußte vielleicht – dann rief er hinaus: ‚Johannes, sei still, augenblicklich gehorchst Du!‘

Ich weiß nicht, was dem sonst so folgsamen Kinde einfiel – war es ein unbewußter Abschied von seinem jungen lieblichen Dasein, war es schon Fieber, was hinter der kleinen Stirn raste – er stand einige Sekunden still, um dann auf die Schaukel los zu stürzen und mit einer Heftigkeit zu schaukeln, daß ich vor Angst, er könnte sich mit dem bald hoch in die Luft fliegenden, bald am Boden dahin sausenden Brettchen überschlagen, hinauseilte, um ihn zur Ruhe zu mahnen. Als er mich über den Grasplatz daherlaufen sah, schrie er: ‚Hussa, Mama, jetzt fliege ich in den Himmel, ganz hoch, ganz hoch!‘ – ‚Johannes!‘ rief ich angstvoll, aber da stand Hermann schon hinter mir, griff erst nach den Stricken der Schaukel und dann nach dem Kind. – Ich sehe noch die großen Blauaugen unter dem Pelzmützchen, die sich mit Thränen gefüllt hatten, und die Angst in dem kleinen Gesicht.

‚Hermann!‘ schrie ich, ‚schlage ihn nicht, schlage ihn heute nicht!‘ Aber es war zu spät – das gezüchtigte Kind – die Schläge waren nicht einmal stark gewesen – lag plötzlich wie bewußtlos mir in den Armen. Ich war hingekniet mit ihm auf den feuchten Rasen, und endlich sagte es leise: ‚Mama, ich habe so Kopfschmerzen,‘ und dabei griff es nach seinem Hälschen, und dann“ – Elisabeth hatte die Hände vor das Gesicht geschlagen und mir den Rücken zugewandt – „dann ward es krank, und –“

Was sie noch sagte, ging in einem Schrei, so weh und jammernd, unter, daß ich alles verstand, daß ich sie in beide Arme nahm und mit ihr, die wie außer sich an meiner Brust schluchzte, weinte.

„Elisabeth,“ sagte ich endlich, „Du weißt, wer sein Kind liebt, der züchtigt es. Er hat ja nur die kleine Unart strafen wollen. Sieh –“

„Das,“ stieß sie hervor, „das hat er mir auch gesagt, aber Du weißt nicht, wie das war. Diese Veränderung in dem lieben Gesichtchen, diese großen angstvollen Blicke – was hatte er denn gethan, der kleine Kerl? Wild war er gewesen, wie Knaben es sind. Du kannst es nicht wissen, Anna, wie die Augen der Kinder blicken, wenn ihnen unrecht geschieht, so fragend, so todttraurig. Das letzte auf Erden war ein Schmerz, der ihm angethan ward, weil er gejubelt und gelacht hatte! Ich kann seitdem kein Kind mehr weinen hören, ich bin wie von Sinnen, wenn eins geschlagen wird, und ich habe Hermanns Hand von der kleinen Leiche hinweggestoßen wie außer mir. Ich weiß, ich bin anders wie sonst, aber man hat mich erst dazu gemacht – –“

So schluchzte sie fort, als bräche heute erst der ganze wahnsinnige Schmerz hervor. „Es ist eine Scheidewand zwischen ihm und mir auf ewig!“ schrie sie. „Gott erbarme sich meiner, aber so kann ich nicht weiter leben!“

Ich fand kein Wort des Trostes; sie erwartete es auch nicht. Sie drückte mir die Hand, und mit einem leise geflüsterten „Laß es genug sein!“ verließ sie das Zimmer.

Beim Mittagessen ward kein Wort gesprochen; Elisabeth verschwand nach Tisch in ihr Zimmer, der Pfarrer ging in die Kirche, und auch ich nahm das Gesangbuch und schritt hinüber zum Gotteshause. Ein junger Diakonus predigte vor etlichen Kindern und alten Mütterlein. Alles, was gesunde Füße hatte, war draußen in den Wäldern, um Pfingsten zu feiern. Ich entschloß mich, etwas umher zu schlendern nach dem Gottesdienst, und führte auch meinen Entschluß aus. Es hat für mich immer einen unsäglichen Reiz gehabt, in so kleinen alten Städten auf Entdeckungsreisen auszugehen; zudem litt es mich kaum in dem Hause.

Die Straßen lagen unter der strahlenden Pfingstsonne wie ausgestorben; ich ging so hindurch, ohne nachzudenken: wohin? Hier und da saßen einige alte Leute auf der Bank vor den Häusern und genossen das Fest auf ihre Weise. Einige breitere, hübschere Straßen durchwanderte ich, freute mich über alterthümliche Häuser, stand dann sehr erstaunt vor dem stillen, jetzt unbewohnten Fürstenschloß, hinter dem sich weite Gärten auszubreiten schienen, und fragte einen Jungen, ob man im Schloßgarten spazieren gehen dürfe.

„Ei ja, soviel Sie wollen!“ war die freundliche Antwort, der auch noch die Beschreibung des Weges folgte, und so kam ich endlich durch einige ganz enge Gäßchen zu einer prachtvollen Lindenallee, in welcher, wie es mir schien, die ganze Jugend Borndorfs umhertobte, und sah nicht weit von mir die geöffnete Pforte des fürstlichen Gartens, an der die verständige Verordnung auf einer Tafel angebracht war, daß Kinder und Hunde nur in Begleitung Erwachsener eintreten dürfen.

Große, sehr vernachlässigte Rasenplätze breiten sich da aus; ein kleiner rascher Gebirgsbach durchströmt den Park. Dichte Boskette blühender Gebüsche, in deren Schatten verlockende Ruhesitze sich bieten, und vor allem wundervolle hohe Bäume, die einen köstlichen erfrischenden Schatten spenden, machen diese Schöpfung vergangener Zeit zu einem wahrhaft vornehmen Garten.

Kein Mensch hier. Neben einer der Queralleen stand ein Wegweiser mit der Inschrift: „Zum fürstlichen Hoftheater.“

Ich verfolgte diesen Weg, und bergab steigend kam ich zu einem weiten Platz, auf dem ein baufälliges Miniaturtheater stand. Sämtliche Thüren und Fenster waren geöffnet, und ein alter Mann fegte wahre Staubwolken heraus.

Ach, heute abend sollte ja „Faust“ gegeben werden!

Ich faßte den Entschluß, hinzugehen, denn solche Wandertruppen haben immer etwas Reizvolles für mich. Elisabeth wird es recht sein, überlegte ich, sie ist ja am liebsten ganz allein.

Ich fragte den Alten, ob er Billette verkaufe.

„Nein,“ war die Antwort; aber zufällig sei die Frau Direktorin da; wenn ich nur hier gleich an die Thür klopfen wolle. – Ich war nämlich eingetreten in das dumpfe Gebäude und stand einer Thür gegenüber, die nach dem Bühnenraume führen mußte.

Auf mein Pochen kam keine Antwort; ich klinkte die Thür auf und fuhr erschreckt zurück. Der Bühnenraum lag in völliger Dämmerung, nur durch eine offene Luke über den Soffiten zuckte ein einziger blendender Sonnenstrahl. Hier stand die Gesuchte, die Schönheit von gestern abend; ihre lichte Gestalt hob sich grell aus dem Halbdunkel; die schwarzen Augen sprühten aus dem weißen Gesicht zu einem schlank gewachsenen Studenten hinüber, der, vor ihr stehend, mir den Rücken zuwandte. Wie ein feuriges Schwert lag zwischen ihnen der scharf begrenzte Sonnenstrahl, in dem Millionen Stäubchen tanzten.

Leise und schnell drückte ich die Thür wieder zu und verließ das Haus; ich athmete erst aus, als mich draußen die reine warme Luft umfing. Alles Blut war mir zum Herzen geströmt, als hätte ich da drinnen einen Spuk gesehen und könne mein Grauen nicht bemeistern. Und jetzt – ich stand unwillkürlich still – trat dort ein Herr aus der Allee, das Kind, das ich gestern gesehen hatte, an der Hand führend. Es war zierlich in Weiß gekleidet, und die langen blonden Haare trugen blaue Schleifen.

Ich hatte das Gefühl, als ob ein Unglück im Anzug sei, aber – ums Himmelswillen, was gingen mich jene wildfremden Menschen an und ihr häusliches Leben und Treiben? Diese Ansicht verhinderte mich indessen nicht, mich immer wieder nach dem Kinde umzuschauen. Das hatte ebenfalls sein Köpfchen auf dem Rücken, und als ich ihm eine Kußhand zuwarf, machte es sich von dem Vater los und setzte mir einen reizend ungeschickten kleinen Knix hin, der seine schelmische Lieblichkeit nur noch erhöhte.

Auf großen Umwegen kam ich wieder nach Hause, just zur Abendessenzeit. Elisabeth kam mir im Garten entgegen. „Arme Anna, Du langweilst Dich gewiß,“ sagte sie traurig, „wenn ich nur wüßte –“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 699. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_699.jpg&oldid=- (Version vom 11.2.2023)