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verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Dem Zuge der Emigranten hätte das Königspaar, wenn es auf dem Wege zur Ostgrenze keine treuen Truppen mehr vorfand, mit seinen Kindern sich gern angeschlossen, aber bekanntlich wurde es, nachdem es Paris heimlich und unbehelligt verlassen hatte, am 21. Juni 1791 in Saint-Menehould erkannt, in Varennes angehalten und nach Paris zurückgeführt. Einige Monate früher waren zwei Tanten des Königs, Töchter Ludwigs XV., noch glücklich über die Grenze gekommen, freilich erst, nachdem sie unterwegs vielfach belästigt und zwölf Tage gefangen gehalten worden waren.

Anfangs legten die Behörden der Auswanderung keine Hindernisse in den Weg, verlangten auch keine Pässe, und es galt dann nur, dem rohen und unberufenen Eingreifen des Pöbels zu entkommen, der hier und da die Reisenden als Aristokraten festhielt. Im November 1791 aber wurde auf die Ansammlung bewaffneter Landesangehöriger an den Grenzen Todesstrafe gesetzt, und seit dem März 1792 durfte niemand das Land verlassen, ohne mit einem Passe versehen zu sein. Meinte die Behörde, Grund zum Mißtrauen zu haben, so verweigerte sie den Paß. Wie die Dinge einmal standen, wurde nun die Ausstellung der Pässe von höheren und niederen Beamten zu Erpressungen benutzt. Man knüpfte die Bewilligung eines Passes an Geldzahlungen, und es kam vor, daß ein Paß 10 000 Franken kostete. Es wurde Sitte, in allerlei Verkleidungen über die Grenze zu gehen, wie denn der Graf von Provence als Diener seines Begleiters gekleidet entkam. Frau von Staël, die sich in jenen Jahren in der Schweiz aufhielt, rettete eine Anzahl von ihren bedrohten Freundinnen in Paris, die ihres vornehmen Namens wegen auf keine Pässe rechnen durften, auf folgende Weise: sie suchte in der Schweiz eine Frau, deren Signalement dem einer bestimmten Freundin ungefähr glich, und bestimmte sie durch Geschenke, mit einem schweizer Passe nach Paris zu reisen. Dort lieferte die Schweizerin den Paß an die betreffende Freundin ab, und diese konnte nun, indem sie den Paß als den ihrigen vorwies, als angebliche Schweizerin ungefährdet Paris und Frankreich verlassen. War sie in der Schweiz in Sicherheit, so wandte sich die Schweizerin in Paris an den dortigen Vertreter ihrer Heimath und ließ sich, weil sie den ersten Paß verloren habe, einen zweiten ausstellen, mit dem sie dann nach der Schweiz zurückkehrte. Auswanderungslustige Damen, welche allein standen oder, um die Entdeckung zu erschweren, ohne die männlichen Mitglieder ihrer eigenen Familie oder getrennt von ihnen reisen wollten, verfielen auf folgendes Auskunftsmittel: sie wandten sich an Ausländer, namentlich an Schweizer, und gewannen sie gegen Entgelt dafür, daß sie sich mit ihnen in bürgerlicher Eheschließung zum Schein verheirateten. Ein solches junges Paar suchte dann um einen Reisepaß nach, und die Behörden verweigerten diesen einem Ausländer und seiner Frau nicht, nachdem sie sich durch Einsicht in das die Eheschließung bekundende Aktenstück überzeugt hatten, daß das nachsuchende Paar wirklich verheirathet, die französische Frau also nunmehr die Bürgerin eines anderen Staates war. Der Mann brachte hierauf mit Hilfe des Passes seine angebliche Frau über die Grenze und kehrte nach Paris zurück, um sich mit einer anderen Frau, die sich seiner Beihilfe bedienen wollte, wieder trauen zu lassen und dasselbe Spiel zu wiederholen. Ein Schweizer, der diese Art von Paßbeschaffung geschäftsmäßig und mit beträchtlichen Einnahmen betrieb, wurde erst abgefaßt, als er sich auf einem der Pariser Standesämter zu seiner achtzehnten Eheschließung anmeldete.

Weitere Gesetzesbestimmungen gegen die Emigranten blieben nicht aus. Im Oktober 1792 wurde die Rückkehr nach Frankreich bei Todesstrafe verboten, und selbst Kinder, welche über zehn Jahre alt waren, sollten wie erwachsene Emigranten abgeurtheilt werden. Die Güter der Emigranten wurden eingezogen. Ihre im Lande gebliebenen Frauen, Kinder und sonstigen Verwandten sollten getödtet werden, und wenn dieses Gesetz auch nicht überall zur Ausführung kam, so sind ihm doch Hunderte zum Opfer gefallen. Selbst die Absendung von Geld, ja nur von Briefen an Emigranten hat wiederholt die Hinrichtung der Absender zur Folge gehabt. Schuldner durften ihren Verpflichtungen gegen Emigranten bei Todesstrafe nicht nachkommen. Im März 1793 wurde umgekehrt der Tod denjenigen Emigranten angedroht, welche nicht zurückkehrten, und seit dem Oktober 1794 sollte die Thatsache der Emigration die Ehe ohne weiteres aufheben.

Die Länder, wohin sich der Strom der Auswanderer ergoß, waren besonders die Nachbarländer, die Schweiz, Italien, England, Belgien, die Niederlande und Deutschland; Bern und Turin, Rom und Venedig, London und Brüssel, Koblenz und Mainz, später auch Hamburg beherbergten in den ersten Jahren die zahlreichsten Emigrantenkolonien. Aber auch die übrigen europäischen Länder wurden aufgesucht, ferner die Vereinigten Staaten von Nordamerika, Kanada, Persien, Indien und sogar Siam. Die reichsten Familien traf man in London und Brüssel, die Militärs in Koblenz, Mainz und Worms, die ärmeren Leute, die ihr früheres Gewerbe oder Handwerk nun in der Fremde betrieben, meist in der Schweiz, weil die Lebensmittel damals dort am billigsten waren. Die Geistlichen, Mönche und Nonnen gingen in der Regel nach den überwiegend katholischen Ländern, wie denn Italien etwa 2000, Spanien etwa 3000 Personen geistlichen Standes aufnahm.

Nur wenige Emigranten hatten noch rechtzeitig Gelegenheit gefunden, ihr Vermögen zu Gelde zu machen und ganz oder zu einem erheblichen Theile mit in das Ausland zu nehmen. Die meisten waren auf die Gastlichkeit und Mildthätigkeit ihrer besser versehenen Schicksalsgefährten und der Fremden, dann auch auf den eigenen Erwerb angewiesen. Viele, die anfangs in Ueberfluß oder doch ohne Entbehrung gelebt hatten, geriethen früher oder später in große Bedrängniß, weil die eigenen Mittel nicht vorhielten, Gastlichkeit und Mildthätigkeit erlahmten oder sich erschöpften und die eigene Erwerbsthätigkeit nicht lohnend war. Die nach Italien und Spanien geflüchteten Welt- und Klostergeistlichen, zunächst auf die Unterstützung durch ihre geistlichen Brüder und Schwestern angewiesen, litten, da ihrer gar zu viele kamen, mit wenigen Ausnahmen Mangel. Einer Minderheit von bevorzugten Emigranten gelang es, in fremden Hof-, Staats- und Kriegsdiensten ein Unterkommen zu finden, wie z. B. der Herzog von Richelieu russischer Offizier und Verwaltungsbeamter wurde; er zeichnete sich im Kriege gegen die Türken aus und erwarb sich Verdienste um das Aufblühen von Odessa. Am österreichischen Hofe und in der österreichischen Armee fanden Emigranten namentlich lothringischer Abkunft Aufnahme, weil das aus Lothringen stammende Herrscherhaus sie begünstigte.

Die glänzendste, an Hoffnungen und Einbildungen reichste Zeit verlebte die Emigration während der ersten Monate ihres Aufenthalts in Koblenz. Der Kurfürst und Erzbischof von Trier, ein sächsischer Prinz und Oheim der königlichen Brüder von Frankreich, gewährte dort als Landesherr seinen beiden Neffen, den Grafen von Provence und Artois, eine königliche Gastfreundschaft und räumte ihnen das Schloß Schönbornlust bei Koblenz als Wohnung ein. Die beiden Grafen theilten ihre Zeit zwischen dem, was sie Regierungsgeschäfte nannten, und zwischen Vergnügungen aller Art. Die Anwesenheit der Gräfin von Provence verhinderte den Grafen nicht, ihrer Ehrendame, der ehrgeizigen, trotz ihrer achtunddreißig Jahre noch immer schönen Frau von Balbi zu huldigen; sie, nicht die Gräfin, war der Mittelpunkt seines Hofes. Wenn sie abends von ihrem Dienst bei der Gräfin in ihre in demselben Schlosse gelegene Wohnung zurückkehrte, fand sie dort den Grafen und eine auserlesene Gesellschaft von Herren und Damen schon vor; mit der diesen Kreisen damals eigenen Unbefangenheit erneuerte sie dann, ein munteres Gespräch führend, vor aller Augen ihre Toilette vom Kopf bis zu Fuß. Der Graf von Artois, dessen Gemahlin in Turin geblieben war, hatte die Frau von Polastron zur Freundin, und die beiden Höfe, deren jeder unter den Emigranten seine Anhänger hatte, intriguierten gegen einander. Man stritt sich bereits um die Aemter und Ehrenstellen, sogar um die Ministerien, die man sich nach dem siegreichen Einzuge in Paris zutheilen lassen wollte. Der Prinz von Condé hatte, obwohl sein Enkel schon neben ihm die Waffen trug, an seinem Hoflager in Worms und später im Felde auch noch eine Freundin, eine Prinzessin von Monaco, Gesellschaften und Feste, Konzerte und Bälle, Liebeshändel, Kartenspiel und Duelle füllten die Zeit der Emigranten aus, und der Uebermuth der jungen Edelleute stellte die Geduld der Einwohner nicht selten auf eine harte Probe.

Durch Besuche und Gesandtschaften bei den mächtigsten Höfen erreichten die Grafen, daß ihnen in den ersten Jahren für ihren Hofhalt, für ihre Diplomatie und für ihr Heer ansehnliche, wenn auch nicht zureichende Mittel zuflössen. Die Kaiserin Katharina II. von Rußland gab im ganzen vier Millionen Franken; andere

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