Seite:Die Gartenlaube (1890) 678.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

den „Zeitgeist“ nennen, was so angreifbar und doch so mächtig ist, das hatte ihn gepackt und festgehalten, dem hatte er nicht zu widerstehen vermocht. – Sein Kopf war doch nicht klar, seine Bildung nicht reif genug gewesen, das Wahre vom Falschen zu sondern, die schlechte Gesellschaft der wüsten Schreier kam dazu, die da abbrechen, stürzen wollen um jeden Preis, ohne die Mittel zu wissen, wieder aufzubauen, Leute, die unter dem Deckmantel der Aufopferung oft die schnödeste Selbstsucht, die verwerflichste Gier verbergen … und so war es denn um ihn geschehen! –

Etwas im Blick, im Ton dieses Mannes war es, das Reginald Muth machte, obschon er sich keines einzigen einlenkenden Wortes entsinnen konnte. Aber es mußte werden – mußte! Diese Seele – er wollte nicht ermatten, um sie zu ringen, zu kämpfen, wie Jakob einst mit Gott! Wie? Er fühlte so starke Gewalten in seinem Innern, sein ganzes Sein war durchglüht von hoffnungsfreudiger Zuversicht – und es sollte ihm nicht gelingen, diese halbverlorene Seele zu sich hinüberzureißen, zu retten aus dem wüsten Chaos von Hohn und Zweifel zu einem letzten reuigen Aufblick, einem letzten gläubigen Stammeln zu dem allgewaltigen Einen, der Millionen kranken Herzen Heil und Hilfe ist? – „Ist Gott für mich – wer kann wider mich sein?“ Mitten im alltäglichen Menschengetümmel kam das glaubenskräftige Bibelwort über ihn mit stolzer Wonne, und er hob sein Haupt hoch, und seine Augen leuchteten.

So kam es, daß er zwei Damen übersah, die ziemlich dicht an ihm vorüberstreiften, und erst, als er halblaut seinen Namen nennen hörte, wandte er sich rasch um.

Frau Hedwig Weyland war’s, Arm in Arm mit Annie Gerold, die sich freundlich nickend zu ihm, der erschreckt mit gezogenem Hut stehen geblieben war, zurückwandte und ihm lachend die Hand bot.

„Wo waren Sie mit Ihren Gedanken, lieber Herr von Conventius, daß Sie uns beide so ganz und gar übersahen? Sie erinnern sich wohl Fräulein Gerolds von unserer Gesellschaft her?“

O ja – er erinnerte sich! Das schöne und kluge Gesicht, das es ihm, eigentlich auf den ersten Blick, angethan hatte, sah unter dem großen, malerischen Rubenshut mit den nickenden Federn rosig und glücklich in die Welt. Dem jungen Geistlichen schlug plötzlich das Herz bis in den Hals hinauf, als er mit einem Blick die wundervolle Erscheinung umfaßte, die einen vollen Strauß von Schneeglöckchen an der Brust trug – ein Genius des Lenzes!

Frau Weyland schüttelte ihm die Hand – gleich kam auch Annies schmales Händchen zum Vorschein und legte sich zutraulich einen Augenblick in seine Rechte.

„Ich habe meine Strafe schon dahin, daß ich die Damen nicht gesehen habe. Bitte, verzeihen Sie es mir! Gnädiges Fräulein, Sie haben hoffentlich nicht gedacht, ich hätte mein Versprechen, Ihnen einen Besuch abzustatten, vergessen, weil ich bisher nicht kam?“

„Nein, ich dachte es nicht!“ gab Annie freundlich und unbefangen zur Antwort. „Ich wußte ja, Sie hatten Wichtigeres zu thun!“

„Wichtigeres nun schon nicht!“ Halb unbewußt fuhr ihm das Wort heraus – es verwirrte ihn ein wenig … und doch! Aug’ in Auge mit Annie Gerold kam es ihm wirklich so vor, als gäbe es für ihn nichts Wichtigeres als sie in der ganzen weiten Welt!

„Nun, lieber Herr Pfarrer, das will etwas bedeuten bei Ihrer Berufsthätigkeit und den vielen ernsten Pflichten, die eine Amtsübernahme mit sich bringt!“ kam ihm Frau Weyland zuhilfe. „Wäre meine Annie nicht solch’ kluges Persönchen, sie könnte sich viel auf Ihre Aeußerung einbilden. Nun holen Sie nur schleunigst den verabsäumten Besuch nach, sonst machen Ihnen die lustigen Ulanen das Leben gar zu schwer – die haben nämlich Haus Gerold in eine Art Belagerungszustand versetzt. Wie ist es denn, Annie – hat eigentlich auch Delmont bei Euch Besuch gemacht?“

„Nein!“ Annie hatte die Augen gesenkt und zupfte an ihren Schneeglöckchen.

„Nicht? Das ist doch ein wunderlicher Heiliger! Ich denke soeben an ihn, weil wir im Begriff sind, sein neuestes Kunstwerk zu bewundern; wir sind auf dem Wege zum Museum. Begleiten Sie uns dorthin, Herr von Conventius?“

„Es thut mir sehr, sehr leid“ – Reginalds Blick und Miene bewiesen vollauf, wie ihm dies Bedauern von Herzen kam – „aber ich habe einem Herrn vom Kirchenkollegium um diese Zeit meinen Besuch zugesagt!“

Er ertappte sich auf dem unchristlichen Wunsch, der Herr vom Kirchenkollegium möchte im Pfefferland sein. „Vielleicht kann ich noch später hinkommen und die Damen im Museum treffen; ich fürchte aber, es läßt sich nicht thun. Jedenfalls, gnädiges Fräulein, nehme ich mir sehr bald die Ehre, bei Ihnen vorzusprechen!“

„Ja, bitte, kommen Sie, Herr von Conventius – meine Schwester und ich werden uns sehr freuen!“

Annie sagte es beinah’ herzlich und reichte dem Pfarrer von neuem die Hand. Gern hätte sie ihm von dem tiefen und schönen Eindruck gesprochen, den seine Predigt ihr hinterlassen habe – die Straße schien ihr aber ein zu ungeeigneter Ort dazu.

„Adieu, lieber Herr Pfarrer, und es wäre kein Unglück, wenn Sie sich auch bei uns einmal sehen ließen,“ sagte Frau Hedwig mit einem schalkhaften Lächeln. „Robert und ich würden uns gleichfalls sehr freuen!“

„Gewiß, sehr gern, meine gnädige Frau, Sie wissen ja –“

„Natürlich weiß ich, lieber Freund! Am Mittwoch empfangen wir, es ist da meistens ganz zwanglos und gemüthlich; meine junge Freundin hier, die fast immer dabei ist, kann es mir bestätigen – nicht wahr, Annie?“

„Ja, liebste Hedwig! Du und Dein Mann, Ihr habt das Talent, es den Gästen bei Euch so heimisch zu machen, daß man es ganz vergißt, zum Besuch gegangen zu sein!“

„Nun sehen Sie, wie das Mädel zu schmeicheln versteht! Also auf Wiedersehen, Herr von Conventius!“

„Den Mann hat’s!“ dachte die scharfsichtige Frau Weyland ebenso, wie Vetter Fritz von den Ulanen es seinerzeit gethan hatte. Der Ausdruck, wenn er Annie ansah – wenn sie zu ihm sprach! Förmlich verklärt! Ein so guter, edler und kluger Mensch, dabei wunderschön, vermögend und mit einer großartigen Zukunft vor sich! Hm! – –

„Annie!“

„Ja, liebster Schatz!“

„Conventius ist doch ein prächtiger Mensch!“

„Das ist er! Mich hat lange nichts so erhoben und innerlich gefestigt, wie neulich seine Predigt!“

„Der wird noch einmal Hofprediger, verlaß’ Dich darauf!“

„Das glaube ich auch; und, was das beste ist, er wird das nicht seinem alten adligen Namen und seinen hohen Verbindungen verdanken, sondern sich selbst!“

„Und wie schön er ist!“

„Wunderschön ja! Sieh’ einmal, Thea würde mich auslachen, und wer weiß auch, ob sie mich so recht verstände – Dir kann ich’s aber sagen, Du weißt, wie es gemeint ist von mir: diesen Conventius könnte ich liebhaben, so recht treu und freundschaftlich und von Herzensgrund, und könnte ihm vertrauen wie einem ganz alten, erprobten Freund, ja, streng genommen, ich thu’ das alles eigentlich jetzt schon, trotz unserer kurzen Bekanntschaft! Ist es die herrliche Predigt gewesen oder ist es sein Gesichtsausdruck, sein ganzes Wesen: ich könnte ihm ohne weiteres folgen, ihm blindlings glauben und ihm eine große Gewalt über mich einräumen. Was meinst Du – wie kommt das wohl?“

Frau Weyland sah in das offene Gesichtchen, in dem ein redliches Nachsinnen zu lesen war, und sie sagte sich innerlich, daß Reginalds Aussichten, trotz dieser schmeichelhaften Meinung, nicht besonders gut ständen. Ein Mädchen, das einen Mann liebt, auch ihrer selbst unbewußt, äußert sich anders.

„Das ist wohl das Geheimniß, das man Sympathie nennt, Annie! Und dann, es läßt sich nicht leugnen, hat Conventius’ Persönlichkeit entschieden für die meisten Menschen etwas ungemein Gewinnendes und Fesselndes, abgesehen davon, daß die ganze Art, wie er seinen Beruf ergriffen und aufgefaßt hat, unendlich für ihn spricht.“ –

Die beiden Damen waren jetzt in der Nähe des Museums angelangt. – Der großartige, weitläufig angelegte Bau mit seinem von korinthischen Säulen getragenen Portikus und der breiten grauen Marmortreppe zog viele Besucher an – von allen Seiten strömten Menschen herzu; Bekannte blieben stehen und begrüßten einander, lebhaftes Geplauder und Lachen ertönte, dazwischen das Klipp-Klapp der Offizierssäbel, die gegen die Steinstufen anschlugen.

Am Fuß der untersten Treppenstufe lag ein wunderschöner großer Neufundländer, behaglich hingestreckt, mitten im hellen

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 678. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_678.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)