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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Geradezu außer sich über den Verlust der treuesten Freundin aber blieb Dina. Kein noch so sanfter Zuspruch der Ihrigen vermochte sie zu trösten, und als wenige Stunden später die offizielle Trauerbotschaft mit näherer Angabe von Zeit und Ort der Beerdigung auch im Ericiusschen Hause eintraf, da war das erste, was über Dinas Lippen kam, der noch von Schluchzen unterbrochene Ausruf:

„Ich reise nach Kopenhagen, ich muß Ingeborg die letzte Ehre geben!“

Keine Gegenvorstellung vermochte sie von diesem Entschluß abzubringen, und schließlich hielten es Frau Ericius und Susanne für das beste und tröstlichste, Dina ihren Willen zu lassen, Tromholt sofort telegraphisch davon zu benachrichtigen, ihm die Zeit von Dinas Ankunft zu melden und ihn zu bitten, für entsprechende Unterkunft besorgt zu sein.

So reiste denn Dina am nächsten Morgen nach Kopenhagen, ohne eine Ahnung, daß der Graf gleichfalls dort sei, da dieser sein Reiseziel nicht angegeben hatte.

Sie wurde von Tromholt am Bahnhof empfangen und begrüßt.

„Haben Sie Ingeborgs Brief erhalten?“ fragte er. „Es war das letzte, was sie schrieb. Ich hatte ihn in der ersten Bestürzung übersehen, fand ihn am Tag nach ihrem Tod auf dem Schreibtisch, von ihrer schon zitternden Hand an Sie adressirt, und habe ihn sofort der Post übergeben. Es wird wohl ein Abschiedsbrief sein, Sie sehen daraus, daß Ingeborg Ihnen bis zum letzten Athemzug treue Freundschaft hielt.“

Dina hatte diesen Brief in Kiel nicht mehr erhalten, er mußte nach ihrer Abreise dort eingetroffen sein. Sie war von neuem tiefbewegt.

Nach dem ersten schmerzlichen Gedankenaustausch geleitete Tromholt Dina in die von ihm bestellten Zimmer ihres Gasthofes und bat beim Abschied um die Erlaubniß, ihr später noch einmal dort aufwarten zu dürfen Er warf dabei hin, daß er sich vor Eintreffen ihrer Depesche bereits mit dem Grafen Snarre für den Abend verabredet, diesen aber bisher nicht wiedergesehen habe, um ihm, wie es jetzt geschehen sollte, von ihrem Eintreffen Kenntniß zu geben.

„Snarre?“ rief Dina und wechselte so auffallend die Farbe, daß Tromholt darüber erschrak. „Ich denke, er ist nach seinen Gütern gereist? Seit wann ist er hier? Wie lange bleibt er, ich bitte?“

In athemloser Hast kamen diese Fragen aus Dinas Mund. Da Tromholt wußte, wie sehr sie sich für Snarre interessirt hatte, schrieb er ihre Erregung diesem Umstand zu und berichtete der Wahrheit gemäß, daß Graf Snarre am gestrigen Abend eingetroffen sei und einige Tage zu bleiben gedenke.

„Graf Snarre weiß also nichts von meinem Hiersein?“ stieß Dina mit der früheren Unruhe heraus. „Ich muß gestehen, ein Zusammentreffen mit ihm wäre mir sehr peinlich – so peinlich, daß ich am liebsten gleich wieder abreisen möchte –“

„Peinlich? – – Ah so!“ fügte Tromholt hinzu, dem bereits eine Vermuthung aufstieg, wie die Dinge lagen.

Eine Pause trat ein, Tromholt wußte nicht, wie er sich verhalten sollte, und Dina bedauerte, daß sie sich zu solchem Gefühlsausbruch vor ihm hatte hinreißen lassen. Sie gewann allmählich ihre Haltung wieder, und jetzt nur noch von dem einen Gedanken beherrscht, die wahren Gründe der plötzlichen Abreise Snarres kennenzulernen, ergänzte sie ihre Rede und sagte, indem sie Tromholt mit einem bittenden und Vertrauen einholenden Blicke anschaute:

„Wenn ich sagte, daß eine Begegnung mit dem Grafen mir peinlich wäre, Herr Tromholt, so ist dies eigentlich nicht völlig richtig. Aber, da Sie wohl erkennen, daß die Nachricht von seinem Hiersein mich sehr bewegt, so erweisen Sie mir den Freundschaftsdienst und sagen Sie mir offen und ehrlich nach Ihrer besten Ueberzeugung: ist Ihnen bekannt, ob den Grafen so wichtige Geschäfte plötzlich aus Kiel forttrieben, daß keine Möglichkeit vorlag, uns Adieu zu sagen? – Nun, lieber Herr Tromholt?“ schloß Dina, als sie sah, daß er mit der Antwort zögerte.

„Ich kann Ihnen Ihre Frage leider nicht unbedingt genau beantworten, Fräulein Dina!“ entgegnete Tromholt ernst. „Was der Graf mit mir zu verhandeln hatte, trug keinen so eiligen Charakter. Aber andere Angelegenheiten mögen vielleicht vorliegen, von denen ich nichts weiß. Erlauben Sie mir die Frage, ob Sie vermuthen, daß Graf Snarre nach einem Vorwand suchte, um sich rasch von Kiel zu entfernen?“

„Ja!“ gab Dina erröthend, aber bestimmt zurück. „Wir alle waren nicht wenig enttäuscht, daß er nach einem solchen engen, Wochen andauernden Verkehr – fast täglich war der Graf in unserer Gesellschaft, ja in unserem Haus – sich in solcher Weise verabschiedete.“

Ueber Tromholts Gesicht zog ein Zug von ehrlicher Trauer. Er erinnerte sich der Worte Altens, der ihm geschrieben hatte, Snarre werde das kleine bürgerliche Mädchen, wenn’s drauf ankomme, doch sitzen lassen! Aber obwohl ihm Dinas Worte jene Prophezeiung zu bestätigen schienen, wollte er solchen Verdacht ohne bessere Beweise doch zunächst nicht aufkommen lassen und sagte daher:

„Graf Snarre ist bisweilen etwas unberechenbar, aber mit seinem Herzen hat das nichts zu thun. Ich glaube, die Schlüsse, die Sie ziehen, Fräulein Dina, sind nicht richtig, und um darüber so bald wie möglich Klarheit zu gewinnen, wählen Sie den von der Ericiusschen Familie stets befolgten Grundsatz unumwundener Offenheit und sprechen Sie selbst mit dem Grafen!“

„O, nein, nein, Herr Tromholt. Es giebt Dinge, die so zarter Natur sind, daß Offenheit sie nur verschlimmert. Fühlt sich der Graf gedrängt, zu sprechen, gut, aber ich – ich sag’s noch einmal – möchte am liebsten sogleich wieder abreisen, so dringend es mich verlangt, Ingeborg noch den letzten Liebesdienst zu erweisen.“ Dina wollte weiter reden. Aber sie vermochte es nicht; heiße Thränen traten ihr plötzlich in die Augen.

„Und doch ist es möglich, daß Sie sich irren, Fräulein Dina!“ besänftigte Tromholt und drückte dem Mädchen voll herzlicher Theilnahme die Hand. „Nicht wahr?“ fuhr er in sanftem Ton fort, „Sie lieben den Grafen? Und wenn ich auch seine Gefühle für Sie nicht zu beurtheilen vermag, – daß der innere Kern in ihm gut ist, daß er Ihre Liebe trotz seiner etwas schwankenden Natur verdient, – dafür möchte ich meine Hand ins Feuer legen. Sie, gerade Sie, Fräulein Dina, sind die rechte Frau für ihn. Durch Sie würde er abstreifen, was Ungleiches noch an ihm hängt, Sie würden ihn zuletzt ganz vergessen machen, daß er Graf Snarre ist. Nur der im Grunde gute, brave Mensch würde zurückbleiben. Denken Sie, daß wie so manches sonst im Leben, auch ein solcher Besitz erstritten werden muß. Rechten Sie nicht mit ihm, selbst wenn er Ihnen wehgethan hat. Jedenfalls hören Sie ihn erst, ehe Sie ihn verdammen.“

„Ah, wie Sie sprechen, und wie wohl mir Ihre Worte thun, wie sie mir das fast verlorene Vertrauen zurückgeben, Sie bester, vortrefflichster Mann, der nur darauf bedacht ist, Freude und Segen um sich zu verbreiten!“ rief Dina stürmisch. „Haben Sie Dank! Und ich will Ihren Rath befolgen, ich fühle jetzt, daß es der richtige ist.“




19.

Ingeborg Elbe war in die Erde hinabgesenkt worden, und Dina Ericius und Graf Snarre saßen sich im Gasthof in der ersteren Zimmer gegenüber. Eben hatte Tromholt, ein ihn in Anspruch nehmendes Geschäft vorschützend, das Gemach verlassen und dadurch den beiden Gelegenheit gegeben, sich auszusprechen.

Am Abend vorher waren sie sich nicht begegnet, Dina hatte Tromholt vor seinem Fortgange gebeten, sie bei dem Grafen zu entschuldigen. Sie sei von den Eindrücken der Todesnachricht zu sehr ergriffen, auch von der Reise sehr abgespannt und wolle sich deshalb bald zurückziehen. Beim Begräbnis hatten sie sich nur aus der Ferne begrüßt, das Trauerbegängniß verlangte ohnehin eine ernste Zurückhaltung.

„Ich hätte wahrlich nicht gedacht, daß wir uns nach so kurzer Zeit in Kopenhagen wiedersehen würden,“ begann Snarre mit etwas künstlicher Leichtigkeit. „Jedenfalls gestatten Sie mir zunächst, Ihnen zu erklären, weshalb ich so rasch und ohne persönlichen Abschied reisen mußte.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 662. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_662.jpg&oldid=- (Version vom 4.11.2022)