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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Schulter tiefer als die andere, der Oberkörper vornüber gebeugt; dazu hinkte die Gestalt, indem sie den einen Fuß wie erlahmt nachschleppte; das war unser neuer Wirth, der berühmte Renthierjäger. Das einzige. was mir an dem verkrüppelten Menschen Interesse einflößte, war das stahlhelle Auge in dem runzligen, abschreckenden Gesicht; in ihm bekundete sich Energie und Spannkraft in merkwürdigem Gegensatz zu der verwitterten äußeren Hülle.

Nachdem uns Bjarne – so hieß der Mann – seinen Willkomm geboten hatte, folgten wir ihm in das räucherige, sonst aber reinliche Innere der Hütte. Während wir dem Führer unser Gepäck abnahmen und aus demselben die zu unserer Verpflegung nöthigen Lebensmittel herauskramten, konnte ich nicht umhin, meine Bedenken hinsichtlich der Leistungsfähigkeit unseres Wirths auf der Jagd auszusprechen; ich war der Ansicht, der Mann sei doch zu allem, nur nicht zum Ertragen von Jagdstrapazen geschaffen.

Die Hütte Bjarnes.

Bald wurde mir die erste Belehrung über Renthierjagd und Renthierjäger zu Theil. Ich erfuhr, daß gedachter Sport zum Anstrengendsten und Aufreibendsten auf diesem Gebiete gehöre. Beweis dafür sei unser Wirth selbst. Das Nächtigen unter freiem Himmel, im besten Falle in den einsamen Steinhütten auf dem Hochfjeld, dann die Jagd selbst, das lange Kriechen über Schneefelder und Hochmoore, um an das scheue Wild heranzukommen, das alles seien Dinge, die man ungestraft selbst dem festesten Körper nicht zumuthen dürfe.

Und unser Wirth gab uns danach, als wir bei einem Glase Toddy, einer Art Grog aus Branntwein, Wasser und Zucker, saßen, die Bestätigung der Worte meines Freundes. Er erzählte, wie er früher ein gerader, straffer Bursch gewesen sei, stark wie ein Bär und ausdauernd wie kein anderer weit und breit. Erst habe er die Jagd zum Vergnügen betrieben; dann aber sei sie sein Gewerbe geworden, und damit hätte ihn der Rheumatismus überfallen und den einst so geraden Körper krummgezogen wie eine Latsche auf dem Hochgebirge. Wenn er nun auch oftmals keine Lust mehr verspüre zur Jagd, er müsse hinaus trotz seines Reißens, um nicht zu verhungern.

Meine ideale Anschauung von der Renthierjagd, genährt durch die Erzählung des verstorbenen Freundes, schrumpfte mehr und mehr zusammen. Das traurige Aeußere unseres Wirths war nur zu sehr geeignet, meine Jagdleidenschaft zu dämpfen. Erst als er von seinen überraschenden Erfolgen erzählte, erwachte dieselbe wieder von neuem; er hoffe, noch in diesem Jahre das neunte Hundert Renthiere voll zu machen. Ich stellte danach eine nach dem Eingangs Erzählten wohl begreifliche Frage, wieviel der Thiere er wohl auf Treibjagden geschossen habe.

Freund B. lachte laut heraus. Er verdolmetschte Bjarne meine Worte, und nun nahm auch dieser an der Heiterkeit theil.

„Renthiere treiben?“ sagte er. Ebenso gut kannst Du auch Adler treiben. Das Hochfjeld, auf dem das Renthier seinen Stand hält, gleicht der unendlichen Luft. Da ist’s nicht möglich, es einzukreisen, man müßte denn Hunderttausende von Treibern und Schützen aufbieten. Und selbst dann würde es nicht gehen, weil das Renthier, wie die Gemse, noch sicher über Schneehalden und Hochmoore wandert, wo kein Mensch mehr fußen kann; die Pürsche, das Anschleichen ist die einzig mögliche Jagdart.“

Jetzt wurde es mir klar: an den seligen Freund war der Versucher in Gestalt seines unvergleichlichen Erzählertalents herangetreten. Ich legte den Genuß, den er mir mit seiner Renthierjagdbeschreibung bereitet hatte, gegen meinen Zorn über die Täuschung in die Wage und verzieh ihm aufrichtig.

Nachdem ich so meine gänzliche Unbekanntschaft mit den Lebensgewohnheiten und der Jagdart des Renthieres eingesehen hatte, ließ ich mich gern von meinen Gefährten über die einschlägigen Dinge belehren.

Die Jagd auf Renthiere ist wohl, was Anstrengung und Entbehrungen betrifft, weit über die Gemsjagd zu stellen. Wenn auch das Steigen in den Alpen und der hohen Tatra ermüdend genug ist, so findet man zur Nachtzeit meistens ein Unterkommen in einer Sennhütte; jene Gebirge sind eben bereits kultivierter.

Auf den skandinavischen Hochfjelds heißt es, die Nahrung mit

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 657. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_657.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)