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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

der wichtigsten Erzeugungsorte für Strohhüte und als solcher weltbekannt geworden. Es zählt etwa 30 größere und kleinere Strohhutfabriken (im ganzen besitzt das Allgäu deren etwa 45, welche sich außer Lindenberg auf die Ortschaften Goßholz, Scheidegg, Heimenkirch, Oberstaufen, Simmerberg und Opfenbach vertheilen), und man spricht davon, daß im Vorjahr allein von Lindenberg aus über zwei Millionen Menschen unter den Strohhut gebracht worden sind; wenn wir in Betracht ziehen, daß etwa 8 Monate lang an 800 Strohhutnähmaschinen unaufhörlich schnurren und surren und 66 hydraulische Pressen Strohhüte ausformen, so dürfen wir diese Zahl eher als zu niedrig ansehen. Das kleine Lindenberg nimmt unter rund 1500 bayerischen Postorten etwa die 80. Stelle ein, was bei seiner Einwohnerzahl von nur 2200 einen riesigen Verkehr bedeutet.

Naturbleiche.

Die auffällig rasche und eigenartige Entwicklung Lindenbergs fällt mit zwei wirtschaftlichen Vorgängen zusammen, welche sich ihrem Wesen nach schroff gegenüberstehen. Der eine war die Ende der siebziger Jahre erfolgte Zollerhöhung auf ausländische Strohhüte, der andere dagegen eine wichtige Erweiterung des Welthandels durch die Einfuhr chinesischer Strohgeflechte. Einerseits war England, welches allein als Einführer von Strohhüten in Frage kam, sehr bald auf unserem deutschen Strohhutmarkt durch die Zölle unmöglich geworden, andererseits aber hätte unser eigenes Gewerbe die Vorliebe des deutschen Volkes für den Strohhut nicht befriedigen können, wenn nicht die Herren Zopfträger weit hinten in Asien mit ihren unglaublich billigen Geflechten zu Hilfe gekommen wären. Allgäu, Schwarzwald und Erzgebirge zusammen können mit ihren etwa 30 000 Flechtern in einem Winter nicht die Menge liefern, welche in Shanghai in einer einzigen Woche nach Europa verfrachtet wird. Die menschenüberfüllten Provinzen Petschili, Schantung und Honan im Nordosten Chinas liefern das Geflecht in Mengen, als wenn es dort fertig wüchse, nach den Vertragshäfen, von wo es meist als Ballast sieben Meere durchschwimmt; und etwa sieben Mal wechselt es den Besitzer, ehe es sich in Hutform auf dem Kopf einer Schönen in einem europäischen Spiegel erblickt. Trotz dieses Wanderns von Hand zu Hand aber ist es immer noch so billig, daß kein europäisches Geflecht, es sei denn das allergeringste, im Preise mit dem chinesischen in den Wettbewerb eintreten kann. Man hat berechnet, daß ein chinesischer Flechter unmöglich mehr als 10 Pfennige den Tag verdient, und dabei glauben diese Leute doch noch, daß sie in einem „himmlischen Reich“ wohnen.

Unsere Flechter haben durch die Einfuhr aus China leider schwere Ausfälle in ihrem Verdienst gehabt, aber dennoch überwiegt der wirthschaftliche Vortheil bei weitem den Nachtheil. Der Strohhut würde niemals ohne China der große Volksartikel geworden sein, der er heute ist. Das unschöne und auch ungesunde Kopftuch der Frauen aus dem Volke ist für die Sommerszeit mehr und mehr zurückgetreten, die Magd auf dem Feld, die Hökerin auf dem Markt schmückt sich mit einem billigen Strohhut, und auch die Handwerker, die im Freien arbeiten, wie die Landleute machen mehr und mehr Gebrauch davon; sie arbeiten ja sonst schon im Schweiße ihres Angesichts und warum sollen sie diesen Schweiß noch unnöthig vermehren, wo ihnen die Strohhutindustrie so billige „Sonnenschützer“ zur Verfügung stellt?

Lindenberg, welches meist billige und mittlere Sorten erzeugt, hat einen großen Vorteil aus der Chinaeinfuhr gezogen, denn etwa 70% aller jetzt hier verarbeiteten Geflechte sind von schlitzäugigen Mongolen gefertigt worden. – Wir wollen einmal unsere sommerliche Kopfbedeckung auf ihrem Werdegang begleiten! Bereits beim Aussäen des Getreides, welches das Stroh liefern soll, muß auf den künftigen Strohhut Rücksicht genommen werden. In Italien und der Schweiz hat man es dabei gar nicht auf die Körnerfrucht abgesehen, man schneidet den Halm schon vor der Reife des Kornes ab – das giebt dann freilich einen feineren und widerstandsfähigeren Strohhut als das grobe ausgereifte Chinastroh. Das Flechten selbst ist eine gleichförmige Arbeit, eine Art Klöppeln ohne Klöppelsack, bei dem sich die Fäden nach oben statt nach unten richten. Der Muster, die durch Zusammenarbeiten von matten und glänzenden, naturfarbigen und gefärbten Strohsorten und durch eigenthümliche Flechtweise hergestellt werden können, giebt es eine Unzahl. Unter 2000 Mustern führt der Reisende eines halbwegs großen Geflechthauses nie bei sich. In Lindenberg selbst wird wenig mehr geflochten, nur hier und da sieht man noch ein Großmütterchen hinter dem Ofen ihren „Boschen“ flechten, während im Erzgebirge und Schwarzwald die Flechtstuben mit ihren lebhaften Gesprächen, der großen Geselligkeit, den „langen Nächten“ und dem Uebermuth der zuschauenden jungen Burschen ihre ganze ureigenthümliche Poesie bis auf den heutigen Tag bewahrt haben. – Auf das Flechten folgt das Bleichen und Färben des Strohes, so weit es diese Prozesse nicht schon ungeflochten durchgemacht hatte. Das Färben geschieht in der Weise, daß man das Stroh in einem Kessel unter Zusatz der Farbstoffe so lange kocht, bis es den richtigen Ton erhalten hat. Das Bleichen aber erfolgt auf zweierlei Art. Die eine wird durch unser obenstehendes Bildchen veranschaulicht. Es ist die sagenannte „Schweizer“- oder Naturbleiche; die Strohbänder werden wie das Leinengewebe auf den Rasen gebreitet, von Zeit zu Zeit begossen, und die Sonne übt ihre bleichende Kraft. Diese letztere aber sucht man neuerdings durch eine chemische Behandlung zu ersetzen und nennt das dann die „englische“ Bleiche.

Verfrachtet.

Wenn wir von der Seide absehen, so dürfte kaum ein Gewebestoff zu finden sein, welcher leuchtendere Farben annähme, als das Stroh; wie in einem tropischen Urwald schimmert’s und leuchtet’s in einem Strohhutmagazin; freilich bleibt der strohfarbene Bleichhut dem sommerlichen, schmetterlingsartigen Wesen, das der Strohhut haben soll, am treuesten; aber sein Glanz ist ein sehr vergänglicher, und aus diesem Grunde werden gefärbte Strohhüte wahrscheinlich nie wieder vom Markt verschwinden.

Zum Nähen der Strohhüte an der überaus rasch arbeitenden Strohhutnähmaschine gehört ein sehr geübtes Augenmaß und eine

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 638. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_638.jpg&oldid=- (Version vom 24.1.2023)