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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

die unabsehbare Reihe der unzähligen Sängervereine und -bünde, von denen einzelne ihre eigenen Musikkapellen, alle ihre Standarten und Fahnen mit sich führten. Einzelne Bundesabzeichen sind so schwer, daß sie im Fiaker gefahren werden müssen, andere werden von Fahnenjunkern buchstäblich im Schweiße ihres Angesichtes getragen. Man kann sogar die liebenswürdige Scene beobachten, daß ein freundlicher Sangesbruder dem geplagten Fahnenträger, welcher keine Hand frei hat, die perlenden Tropfen von der Stirn wischt! Große Heiterkeit erregen der Berliner Bär, der Nürnberger Trichter und die unter grünweißen Sonnenschirmen gehenden 14 Sänger aus Wurzen. Ein Herold und sechs Knappen reiten dem Wagen der „Vindobona“ voraus, der mit wunderschönen Frauen besetzt ist. Nicht minder reizvoll aber sind die Insassen der Wagen „Austria“ und „Germania“. Beim Nahen der süddeutschen Sänger erhöht sich der Jubel der Bevölkerung, und er steigt auf die Spitze, als die Amerikaner mit ihrem Sternenbanner herannahen. „Ein Hoch der schönen Stadt Wien!“ ruft einer der Gäste, und ein vieltausendstimmiges Echo beantwortet den liebevollen Gruß. Helle Bewunderung erwecken – beim Wagen „Germania“ – die alten Deutschen, die in glaubwürdigster Weise Gestalten aus dem Nibelungenliede verkörpern.

Bierhalle zur „Sängertoni“.
Wein- und Bierhalle zum „Minnesänger“.

Der herzlichsten Huldigung hat sich auch der Bürgermeister zu erfreuen, welcher im Galawagen der Stadt Wien dahinfährt. Eine lange Reihe von Fiakern, fast durchweg mit reizenden Pferdchen bespannt, schließt sich an den städtischen Galawagen an; einzelne Herren pflücken von der Bekränzung ihres Wagens Rosen und werfen sie in die Menge – ein kleiner Zug, der den herzlichen Charakter der Wiener kennzeichnet! Den Schluß machen die Prunkwagen der Wiener Vereine; besonderen Beifall finden das „Donauweibchen“ und das Sechsgespann des Wiener Männergesangvereins. Derselbe macht vor der Oper Halt, um dem Direktor Jahn, der auf der Loggia den Zug mitansieht, seine Huldigung darzubringen.

Sechs Sicherheitswachleute zu Pferde schließen den Zug ab, dessen Vorbeimarsch fast volle drei Stunden gedauert hat, und dessen letzte Glieder erst um 8 Uhr in die Sängerfesthalle des Praters gelangen.

Der trinkbare „Sängerwein“, der dort unten beim „Minnesänger“ fließt, und der edle Schwechater Stoff, der bei der „Sängertoni“ geschenkt wird, erfrischen gar rasch die müden Glieder. Unser obenstehendes Bildchen vereinigt die Darstellung der beiden Augenblicksgasthäuser, welche wahrscheinlich schon wieder vom Erdboden verschwunden sein werden, wenn diese Zeilen in die Hände des Lesers gelangen. Ein sichtbares Andenken aber wird uns in dem Gemälde erhalten bleiben, welches der volksthümliche Wiener Künstler J. M. Kupfer „Sängertoni“ getauft hat und von welchem der Bierschank des Festplatzes seinen Namen ableitet. Kupfers „Sängertoni“ wird zwar wohl niemals so populär werden wie Kaulbachs „Schützenliesel“, sie ist aber doch ein recht flottes, naturwüchsiges und dabei anmuthiges Frauenzimmer.

Selbstverständlich vereinigte noch am selben Abend die Festhalle, auf deren Galerie sämmtliche Banner und Fahnen aufgestellt wurden, viel tausend sangesfreudiger Gäste, die in immer höher schwellender Begeisterung deutsche Lieder erklingen ließen und sich schließlich zu einem weihevollen Vortrage der österreichischen Volkshymne vereinigten. Große Wirkung machten die Worte des amerikanischen Vertreters, der mit seiner mächtigen Stimme den Riesenraum ganz erfüllte. Und seine Höhepunkt erreichte der Festesjubel, als das Telegramm verlesen wurde, in dem Herzog Ernst von Sachsen-Coburg-Gotha, einer der deutschesten unter den deutschen Fürsten, den Sängerbund begrüßte und seine Zuneigung für denselben ausdrückte.

Der zweite Festtag war vornehmlich künstlerischen Zwecken gewidmet. Am Vormittag hielten die Chormeister Kremser und Mair ihre Proben ab und stellten durch ihre künstlerische Gewissenhaftigkeit gar hohe Ansprüche an die Ausdauer und Geduld der Sänger. Daß ein achttausendstimmiger Chor nicht achtzig Mal stärker und voller klingt als ein hundertstimmiger, daß die Wirkung nicht in gleichem Maße sich verstärkt, als die Zahl der Sänger zunimmt, ist eine alte Erfahrung. Trotzdem war die Wirkung eine eigenartig große, und jeder Theilnehmer würde es wohl sehr bedauern, wenn er diesen seltenen Genuß verabsäumt hätte.

In dem allgemeinen Sängerkriege, der sich an die Gesammt-Aufführung anschloß, bestanden zwar die Deutschen, insbesondere die Königsberger, sehr ehrenvoll; den Sieg aber ersang sich doch der Wiener Männergesangverein, dessen echt österreichische Innigkeit und Herzlichkeit im künstlerischen Vortrage unerreicht bleibt. Auch die österreichische Militärmusik feierte (unter Komzaks Leitung) große Triumphe. Die ernsten Vorträge fanden allgemeine Anerkennung und die volksthümlichen Weisen entfesselten rauschenden Beifall.

Ein feierlicher Kommers beschloß den zweiten Festtag. Wie durch Zauber waren ein Theil der Bänke wieder in Tische verwandelt, und bei Speise und Trank erquickten sich die Kehlen. Den Gastgebern zur Ehre ertönte wiederum die „Volkshymne“, den deutschen Gästen zuliebe das „Heil Dir im Siegerkranz“, und zur allgemeinen Freude „Das deutsche Lied“. Durch die feierliche Begrüßungsrede des Bürgermeisters Dr. Prix, welcher das Deutschthum Wiens betonte und die österreichischen Deutschen mit den Gliedern einer großen Familie verglich, die sich ein eigenes Heim gegründet haben – durch diese Rede hat der zweite Festtag eine erhöhte Bedeutung erhalten.

Der dritte Festtag fiel mit dem Sonntag zusammen und brachte Menschenmassen in den Prater, wie sie derselbe seit mehr als einem Jahrzehnt nicht mehr gesehen hat. Der zweiten Haupt-Aufführung, die nicht minder würdig verlief als ihre Vorgängerin, wohnte der Erzherzog Carl Ludwig als Vertreter des Monarchen bei, welcher letztere außerdem den Sängern telegraphisch seinen kaiserlichen Gruß entbieten ließ. Auch die Erzherzöge Wilhelm und Rainer, der Ministerpräsident Graf Taaffe, der Kultusminister Dr. Baron v. Gautsch, der Handelsminister Marquis Bacquehem und der Justizminister Graf Schönborn waren zur Begrüßung der Sänger erschienen. Der Bundesvorstand, Dr. Beckh aus Nürnberg, brachte in einer bedeutsamen Rede ein Hoch aus auf den Kaiser Franz

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 623. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_623.jpg&oldid=- (Version vom 17.1.2023)