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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

„Weiß ich’s? Sie nahm nachher einen Gutspächter – war ein nettes Mädel –“

„Der Pächter?“

„Dummheiten! Ja, und seitdem hab’ ich sie nicht mehr wiedergesehen.“

„Gründlich, Sie sind ein gründlicher Don Juan! Und eben um dieser an sich verfluchten Eigenschaft willen sollten Sie uns, Thor und mich, schlankweg übermorgen in die Lukaskirche begleiten –“

„Was?“ fuhr der lange Rittmeister aus seinem Phlegma auf. „Ich soll auch mitkommen? Könnte mich grämen!“

„Weil,“ fuhr Conventius unbeirrt mit erhobener Stimme fort, „eine ganze Anzahl sehr hübscher und junger Mädchen sich ohne Zweifel zu eben dieser Antrittspredigt in eben diese Lukaskirche begeben wird und Ihre profanen Augen Gelegenheit zu gründlichen Studien bekommen dürften. Wenn dabei noch ein Stückchen Moral in Ihrem verstockten Busen Wurzel fassen sollte … welch’ ein Triumph für meinen Vetter! Meine neuliche Cotillontänzerin, diese reizende Annie Gerold, – ich weiß nicht, Parsifal, ob Du Dich ihrer noch erinnerst – eine kastanienbraune Haarfarbe – weißes Kleid – La France-Rosen – und –“

„Ja doch! Zum Donnerwetter, ich erinnere mich! Nun also, mach weiter!“

„Die kommt also bestimmt auch hin, sie hat es mir selbst gesagt.“

„Hm! hm!“ machte der Rittmeister und starrte ganz tiefsinnig in seinm leeres Glas. „Predigt er sehr lange – Dein Vetter?“

„Na, einschlafen wirst Du nicht, mein lieber Alter, bei solcher Augenweide! Die Blumenmädchen, die Deinen klugen Namensvetter in der Wagnerschen Oper umgaukeln, können es sicher nicht mit dem hiesigen Damenflor aufnehmen! Also Du kommst?

‚Mit Wellgunde bin ich zu zwei’n’!‘

Und Sie, Gründlich?“

„Na, ich weiß noch nicht, werde mir’s überlegen!“ Der Lieutenant stand auf, gähnte herzhaft und dehnte seine etwas dürren Gliedmaßen, wobei er von einem Fuß auf den andern trat mit einiger Vorsicht, um Julchen nicht aufs neue zu beschädigen.

„Was – Sie gehen schon, Gründlich?“ brummte Thor. „Am Ende komme ich auch mit Ihnen; hast Du noch Stoff vorräthig, Conventius?“

Der Angeredete nahm eine Flasche vom Tisch und hielt sie gegen das Licht. „Der Portwein ist hin. Du hast ihn bis auf den letzten Tropfen durch Deine unersättliche Gurgel rinnen lassen! Aber Cognak ist noch zu haben!“

„Danke schön. Ich komme lieber einandermal wieder, wenn Du frische Zufuhr hast. Wo sind Deine Cigarren hingekommen?“

„Dicht vor Dir auf dem Tisch stehen sie!“

„Kunststück, bei dem Qualm was zu sehen! Auf Wiedersehen denn übermorgen in der Lukaskirche.“

„Man wird sich kurios genug da drin ausnehmen!“ Gründlich zog sich, während er dies sagte, den Waffenrock zurecht und langte nach seinem Paletot. „Und übrigens, was das schöne Mädel betrifft, diese junge Gerold, so fürchte ich, unsere Waffe hat verflucht wenig Aussichten bei ihr, – sie sah neulich heillos vergnügt aus zwischen den zwei Civilisten, die sich, wie mir’s schien, beide etwas angesengt hatten.“

„Unsinn!“ murrte Thor dazwischen.

„Sie meinen, wenn eine so herzstürmende Persönlichkeit wie die Ihrige, noch dazu in der Ulanka, in die Schranken tritt, verschwindet alles einfarbige Tuch wie Schnee an der Sonne. Ich weiß doch aber nicht, lieber Hammerstein! Dies junge Fräulein hat eine ganz erstaunliche phisosophische und klassische Bildung erhalten, ihr Vater war ein Stockgelehrter, die alte Schwester, mit der sie lebt, liest ihren Kant und Schopenhauer wie unsereins die Fibel. Haben Sie von diesen Herren je etwas gehört?“

„Gründlich, lassen Sie ihn in Frieden! Sie sind ja heillos genau auf dem laufenden!“

„Halte ich für meine Pflicht, Bester! Bei einem schönen Mädchen muß unsereins stets wissen, woher und wohin. Adieu denn!“

Die beiden griffen nach Säbel und Kopfbedeckungen und verließen klirrend und rasselnd die „Bude“.

Der junge Conventius ging ein paar Mal gedankenvoll auf und nieder, ließ sich dann nachlässig auf seinen Klaviersessel fallen und schlug leise mit der rechten Hand auf den Tasten Lohengrins Erzählung an:

„Im fernen Land, unnahbar euren Schritten –“

Allmählich kam auch die Linke dazu, die herrliche Melodie schwoll an, wurde immer volltöniger und mächtiger. Der Lieutenant war ein vielseitig begabter Mensch: er zeichnete sehr hübsch, hatte viel Sprachtalent und spielte gut Klavier – zumeist nach dem Gehör, denn er war sehr sorglos in der Pflege seiner Gaben und viel zu bequem, sich eine große Technik anzueignen.

Julchen hatte sich, da die Thür zum Schlafzimmer geschlossen war, in den entferntesten Winkel zurückgezogen und saß nun dort mit still ergebenem Gesicht. Sie liebte die Musik gar nicht, wußte aber, daß Heulen ihr nicht gestattet war und unnachsichtlich mit schmerzhaftem Zerren an ihren lang herabhängenden Ohren gestraft wurde.

Jetzt klopfte es leise an die Thür und das rothe, runde Gesicht eines Burschen wurde sichtbar.

„Bitt’ um Verzeihung, Herr Lieutenant, aber Frau Lehmann ist hier – Herr Pfarrer möchte gern den Herrn Lieutenant sprechen und fragt an, ob es hier oder oben genehm wäre.“

Der Lieutenant warf einen raschen Blick auf das mit blauem Rauch erfüllte Zimmer, die geleerten Gläser und Flaschen, die Cigarrenreste auf dem Tisch, die Lampe, die wie in einem Dunstkreis brannte, und erwiderte:

„Ich lasse grüßen und würde in zwei Minuten oben sein!“

Er ging hastig in sein Schlafzimmer, warf den Hausrock ab und tauchte Kopf und Hände in eine große Waschschüssel; nachdem er dies Manöver prustend und ächzend mehrmals wiederholt und sich mit einem groben Tuch getrocknet hatte, trat er vor den Spiegel, zog den Rock wieder an, band die Krawatte fester und strich sich das Haar zurecht. Dann schellte er nachdrücklich.

„Kruschewsky, Du lüftest hier gehörig, aber gehörig – verstanden? Wenn ich herunterkomme, und ich rieche noch ein Atom von kaltem Tabak, so dreh’ ich Dir das Genick um!“

Mit dieser menschenfreundlichen Ermahnung stieg der Lieutenant, von Julchen begleitet, die Treppe hinan.

Eine freundliche alte Frau mit einem guten, faltigen Gesicht unter einer schneeweißen Haube öffnete ihm die Thür – Frau Lehmann, Reginalds Amme, die ihr heimathliches Dorf, ihre Kinder und Enkel verlassen hatte, um ihren Liebling in der großen, fremden Stadt nicht ganz allein zu lassen. – Die beiden, Fritz und die Lehmann, konnten einander gut leiden und lachten sich freundlich an.

„Gehen Sie nur gleich hinein, Herr Lieutenant, er ist vorn und wartet auf Sie! Mein Gott, Sie sehen ja so roth aus im Gesicht – Sie werden doch nicht krank sein?“

„Bewahre, liebe Frau Lehmann! Ich bin bloß aus Freude erröthet, Sie wiederzusehen! Komm’, Julchen!“

Das hellerleuchtete, sauber aufgeräumte und von Blumenduft durchzogene Zimmer, das der Ulan jetzt betrat, stand im schärfsten Gegensatz zu der „Bude“, die er soeben verlassen hatte. Alte, gediegene Möbel standen an den Wänden umher, ein großer, heller Teppich bedeckte den Fußboden; über dem Sofa hing das lebensgroße Brustbild einer sehr schönen blonden Frau, der Reginald auffallend ähnlich sah.

Er hatte mit einem Buch neben der Lampe am Tisch gesessen und reichte seinem Vetter freundlich die Hand.

„Guten Abend, Fritz! Setz’ Dich! Kann’ ich Dir etwas zu rauchen und zu trinken anbieten? Nein? Nun, wie Du willst! Guten Abend, Julchen!“

Die wohlerzogene Hühnerhündin hatte dem Pfarrer eine Pfote hingereicht, und er schüttelte sie ihr wie einer guten Freundin.

„’s ist doch höllisch gemüthlich bei Dir, Regi!“ sagte der Lieutenant mit einem tiefen Athemzug, indem er sich behaglich in seinem Sessel dehnte.

„Höllisch ist für einen Geistlichen nicht ganz kommentmäßig, Fritz!“ sagte der Pfarrer lachend. „Und warum, wenn Dir’s bei mir so gefällt, kannst Du Dir nicht unten die selbe Gemüthlichkeit schaffen?“

„Das leiden schon die Kameraden nicht, denen ist am wohlsten, wenn angerauchte Cigarren und Karten und Gläser und Reitpeitschen bunt durcheinander gemengt sind. Du hast im ganzen wenig Besuch.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 618. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_618.jpg&oldid=- (Version vom 11.7.2022)