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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Delmonts Hand glitt herab vom Kopf des Hundes; die Augen immer noch halb rückwärts gewendet, zog er ein Blatt Kartonpapier und einen Zeichenstift zu sich heran. Jetzt legte er das Blatt auf seine Kniee und setzte den Stift an – dazu murmelte er halb unwillig: „Nur die Hand!“

So wie sie ihm vorschwebte – nein, wie er sie in diesem Augenblick greifbar deutlich vor sich sah wie alles, was ihm einen starken Eindruck machte, so gab er die Form dieser schönen Mädchenhand mit raschen, festen Strichen auf dem Papier wieder. Sie hatte den Künstler entzückt und den Menschen begeistert, diese weiße Hand mit ihren ruhigen, vornehmen Linien – es lag so viel Charakter darin! Sie hatte keinen Ring getragen, nur einen prachtvollen, alterthümlichen Armreif, den ihr Vater einmal für schweres Geld von einem Augsburger Raritätenhändler erstanden hatte. Delmont hatte den Reif bewundert, aber auch das feine, runde Handgelenk, das er umschloß! Da waren sie beide, der Armreif und die Hand, wie sie neben ihm auf dem Tisch gelegen hatten, regungslos und doch beseelt!

Der Stift fuhr unruhig auf dem Papier hin und wider, es war, als hätte er Leben bekommen und trachtete nun danach, selbständig etwas zu leisten …

„Nur den Umriß des Kopfes!“ flüsterte der Künstler vor sich hin, abermals zu seiner eigenen Entschuldigung.

Und es trat mit überraschender Schnelligkeit das feine Köpfchen auf dem zierlichen Halse auf, die reizende Biegung des Nackens, an den die goldigen Löckchen sich schmiegten. Weiter nichts! Das Haupt war ganz abgewendet, nicht einmal das Profil war zu sehen, wie wenn das Bildchen sagen wollte: „Was gehe ich dich an? Und was gehst du mich an?“

Dieser gebieterische Stift! Dies brennende Verlangen, dem stummen, weißen Papier noch mehr zu sagen! Und endlich … was war’s denn? Er wollte sich, um in der Künstlersprache zu reden, „von einem Eindruck befreien“. – Vielleicht – ganz traute er der Sache nicht! – aber vielleicht „befreite“ er sich wirklich; immerhin konnte er’s versuchen!

Da fuhr es wie ein elektrischer Strom in den herrischen, ungeduldigen Stift, und rasch, rasch wie durch Zauber, kam etwas Wunderschönes auf den Karton, ein feines, edles Profil, hinter dem zierlichen Ohr eine köstliche, voll erblühte La France-Rose, die sich in das seidenweiche Haar schmiegte – dann noch einmal derselbe Kopf, fast ganz dem Beschauer zugewendet, das süße, lächelnde Gesicht, die leuchtenden, klugen Augen, zum Sprechen getreu.

Ego hatte sich hoch emporgerichtet und sah seinem Herrn über die Schulter – seine ernsten Augen schienen zu fragen: „Was thunst Du da? Wer ist dies?“

Seufzend, wie nach überstandener Mühsal, ließ der Künstler seine Hand sinken; er mußte sich gefangen geben, das fühlte er, denn von einem „befreienden Eindruck“ war nichts in ihm zu verspüren – im Gegentheil!

Gut, er war sich klar über sich selbst! Aber das war alles – weiter sollte und durfte nichts folgen. Wie ein fest entschlossener Mann, der ein schweres Opfer auf sich nehmen muß, stand er auf, öffnete ein breites Geheimfach seines Arbeitstisches, legte das Blatt mit den Zeichnungen zu unterst hinein und häufte Papiere, Skizzen, Kartons darüber, schloß ab, steckte den Schlüssel zu sich, zündete ein paar Kerzen auf einem Armleuchter an und stellte das Gas ab. Im Nu lag der mächtige Raum im tiefsten Dunkel, nur im Kamin gaben die langsam verglimmenden Holzblöcke eine rothe gedämpfte Gluth, und die drei Kerzenflämmchen warfen einen ungewissen Schimmer auf die zunächstliegenden Gold- und Brokatstoffe, denen ein schwaches metallisches Funkeln entlockt wurde. Der Neufundländer war aufgestanden, er dehnte seine prächtigen Glieder und gähnte lautlos.

„Ja, Ego, komm’, wir wollen zur Ruhe gehen!“

Der Professor wandte sich noch auf der Schwelle zurück und sah nach seinem Arbeitstisch; das Geheimfach war gut abgeschlossen. –

Aber wie er eine halbe Stunde später in festem Schlaf in seinem Bett lag, da kam der Traumgott zu ihm und schloß das Geheimfach seines Herzens wieder auf und zeigte ihm Annie Gerold aufs neue, liebreizend und lebensvoll. Da sagte er ein paar halblaute, zärtliche Worte im Schlaf, und Ego, der zu seinen Füßen hingestreckt lag, fuhr in die Höhe und hob den Kopf, wachsam in die dunkle Nacht hinausspähend – er wußte, es nahte sich etwas Fremdes, Ungewohntes, – ein Schmerz für seinen Herrn …




4.

„Ich werde es doch thun müssen!“ sagte der Ulanenlieutenant Fritz von Conventius in gedehntem, elegischem Ton. Von ihm und der Umgebung, in der er sich befand, war wenig zu sehen, – derartig verfinsterten dicke Wolken von Tabaksqualm die Luft. Es war eine lange Pause in der Unterhaltung eingetreten, die durch diese Bemerkung des Gastgebers unterbrochen wurde.

„Thun? Was?“ knurrte der Baß des Rittmeisters Thor von Hammerstein dazwischen. Er war noch unsichtbarer als sein Kamerad Conventius, da er es in der Kunst, die riesigsten Ringelwolken von sich zu blasen, entschieden am weitesten gebracht hatte; jetzt theilte er mit seiner großen Hand den Rauch und man konnte für einen Augenblick sein dickes, rundes Gesicht mit dem brandrothen Schnauzbart und den verquollenen Augen sehen.

„Nun – eben, – zur Antrittspredigt meines Vetters Reginald in die Lukaskirche gehen.“

„Donnerwetter!“ fuhr der Lieutenant Gründlich heraus, und die braun und weiß gefleckte Hühnerhündin des Gastgebers, die unter dem Tisch in einen tiefen Schlaf versunken gewesen, begleitete den Fluch mit einem schmerzlichen Geheul, – der Lieutenant hatte ihr in seiner Erregung unversehens einen Fußtritt gegeben.

„Na, so nehmen Sie sich doch aber in acht, Gründlich! Sei ruhig, Julchen, der Onkel hat’s nicht gern gethan!“

„Sie müssen wirklich mehr an die Beine Ihrer Nebenmenschen denken, Gründlich!“ fiel Thors Baßstimme dazwischen; er hatte seine langen Beine so weit wie möglich von sich gestreckt und ebenfalls sein Theil abbekommen.

„Nebenmenschen ist wunderschön gesagt, Parsifal!“ erwiderte Conventius. „Quittire dankend in Julchens Namen, – sie nimmt’s bei ihrer hochgradigen Intelligenz allerdings mit manchem Menschen auf. So, kusch dich, Julchen, sei gutes Thier, – hat dich die schwere Reiterei so arg getreten?“ Die Hündin hielt die Pfote hoch und reichte sie dem Lieutenant hin wie ein Kind, das sich von seiner Mutter trösten lassen möchte. „So, – so – o – o! Alles in Ordnung, Alte, nicht wahr? Ich bitt mir’s aus, Gründlich, daß Sie ein andermal etwas leiser treten! Was hatten Sie sich denn überhaupt so kräftig zu verwundern?“

„Und das fragen Sie noch? Erlauben Sie ’mal, – wenn Sie freiwillig in die Kirche gehen …“

„Ich habe Ihren Verstand übertaxiert, mein Guter! Ich war der einfältigen Meinung, Sie müßten hierfür eine Art von Verständniß entfalten! Parsifal, was sagst Du?“

Der Angeredete, wieder gänzlich von Rauch verdeckt, that erst noch ein paar kräftige Züge und griff dann nach einem Bierglase, das vor ihm stand und seine beliebte „Mischung“ enthielt: Cognak und Portwein, halb auf halb.

„Na,“ kam es endlich brummend heraus, „hingehen mußt Du wohl!“

„Ich sollt’ es denken! Und Ihnen, Gründlich, würde es durchaus nichts schaden, wenn Sie mich begleiteten! Denken Sie denn, mein Vetter hält Predigten wie eine Wassersuppe?“

„Ihr Vetter ist ein schöner Mensch – aber – na, was anderes wird er auch nicht zu predigen wissen wie die übrigen.“

„Und ich sag’ Ihnen, er ist ein schneidiger Mensch, der Feuer und Leben in Gottes Wort zu bringen versteht – abgesehen davon, daß er sonst noch ein famoser Kerl ist und ich ihm so vieles verdanke. – Wo haben Sie denn übrigens jemals Gelegenheit gehabt, etwas vom Predigen zu sehen und zu hören?“

„Ich? Ach, ich hatte da ’mal solch’ hübsche Cousine auf dem Lande …“

„Aha! Sehen Sie, unreines Gefäß, das Sie sind, dazu war Ihnen die Kirche gut genug. Pfui! Und dabei haben Sie, Ihrem edlen Namen zum Trotz, nicht ’mal die Sache gründlich betrieben, denn Sie schleichen allein durchs Leben!“

„Schleichen? Ich? Bei meinem schneidigen Tritt?“

„Jawohl, schneidig! Mein Julchen wird an diesen Tritt noch lange denken! Wo ist die Cousine geblieben?“

Gründlich zog die Schultern hoch.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 616. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_616.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)