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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)


die sie an den Studien ihres Gatten scheinbar wenig Antheil nehmen ließ! Sie wollte Thekla das einzige Recht, das diese voll und ganz genoß, das der geistigen Gemeinschaft mit ihrem Vater, nicht entziehen, da sie das Herz des geliebten Mannes schon ohnehin zu eigen hatte. Sie fuhr aus, machte Einkäufe und Besuche oder lud sich eine Freundin ein, nahm wohl auch ein hübsches Buch vor, während die beiden miteinander lasen und disputirten, um dann, schön und hell wie ein Maientag, in das Studierzimmer zu treten und sich mit einem Sturm von Jubel und Zärtlichkeit begrüßen zu lassen. Sie verstand es, aus allem etwas zu machen, das unbedeutendste Erlebniß anmuthig oder witzig zu schildern; dabei blieb ihr Gemüth rein und ihr Herz weich, nie kam ein hartes oder liebloses Urtheil aus ihrem Munde. Unmöglich, sie nicht zu lieben – unmöglich, die drei Jahre voll ungetrübten Sonnenscheins zu vergessen, die sie dem Hause gebracht hatte.

Ihr Töchterchen Annie, Zug um Zug ihr Ebenbild, lebte schon ein Jahr und gab durch sein Dasein der schönen, jungen Mutter einen neuen Reiz, als eine Typhusepidemie ausbrach und im ganzen Hause ein einziges Opfer forderte.

Sie litt nicht lange, sie starb, wie man mit rascher Hand eine Blume knickt, die eben in vollem Prangen ihren köstlichen Kelch erschlossen hat – aber die sie zurückließ – –

„Gut, daß Du von all dem Jammer keine Ahnung hast!“ dachte Theka Gerold und starrte mit heißen Augen auf den Lichtstreifen, der eben wieder durch Annies vorüberhuschende Gestalt verdunkelt wurde. Der unglückliche Gatte war in einen trostlosen Zustand gerathen; er konnte das Kind in der ersten Zeit nicht sehen, das ihn mit den Augen der Entschlafenen anlachte, er konnte lange den Ton des feinen Stimmchens nicht hören, das ganz so glücklich aufjauchzen konnte, wie die Mutter es verstanden hatte, er wollte auch keinen Zuspruch, kein Trosteswort hören. Ach, wo blieb nun die vielgerühmte Macht der Wissenschaft, wo die stolze sieghafte Kraft seiner Philosophen? Sie waren alle, alle machtlos, ihm zu helfen, sie konnten sein wundes Herz nicht heilen und ihm seinen Liebling nicht zurückgeben!

Er wäre gern gestorben, aber … erst zögernd, dann lauter und bestimmter sagte er sich’s: „Das darfst du nicht – was würde aus dem Vögelchen werden?“

„Das Vögelchen“ – so hatten sie Ellinor genannt, so nannten sie auch die Kleine, wenn sie in ihrem kurzen, weißen Röckchen die dunkeln langen Treppen heruntergeflattert kam und sich mit einem hell zwitschernden Laut dem Vater in die Arme warf. Das Kind liebte den stillen, traurigen Vater abgöttisch, und dieser konnte schließlich nicht anders – er mußte diese Liebe erwidern! Gewiß, Thekla war gut und behütete das Kind wie ihren Augapfel, aber sie war so ernst, und ein Kind, gar dies Kind, das Kind dieser Mutter, brauchte Freude! Die mußte der Vater ihm verschaffen, und er that es, soviel in seinen Kräften stand. Sein „Amanuensis“ stand ihm getreulich bei. Als der Vater gefragt hatte: „Willst Du es übernehmen, Thekla, das Kind mit mir zusammen zu erziehen?“ da hatte sie ein feierliches „ja“ gesprochen, und sie ordnete sich in allem ihrem Vater unter. Er putzte die Kleine heraus wie ein Prinzeßchen – Thekla schüttelte insgeheim den Kopf dazu, sagte aber kein Wort, und es kam die Zeit, da sie dem Vater recht gab, wenn er behauptete, das Vögelchen sei auch darin seiner Mutter echtes Kind, daß es keine Spur eitel sei. Es freute sich des neuen schönen Kleidchens, weil das Kleidchen schön war, nicht aber, weil es ihm besonders gut zu Gesicht stand, es spielte mit dem kleinen abgegriffenen Gummiball ebenso gern wie mit der kostbaren Pariser Puppe, es hatte immer soviel zu thun und zu denken in seinem lustigen kleinen Köpfchen, und es hatte sich den ganzen Tag zu freuen und den Vater zu streicheln und zu küssen und Thekla zum Lachen zu bringen mit seinen drolligen Kindereinfällen … wo hätte das Vögelchen wohl die Zeit hernehmen sollen, um eitel zu werden? –

Es wurde fünf, es wurde sechs Jahre alt, es sollte bald sieben werden – ein kräftiges, schön entwickeltes Kind. Thekla fand in der Stille, nun sei es höchste Zeit, daß es anfange, etwas zu lernen. Sie selbst hatte in dem Alter schon fließend lesen und schreiben können. Allein der Vater wünschte es nicht, Vögelchen sollte seine Kindheit herrlich genießen. Das that es denn auch und jubelte und lachte im Garten und tollte mit Agathe und dem ehrbaren Lamprecht und mit den kleinen Freunden und Freundinnen, daß es im ganzen Hause einen lauten Widerhall gab. Endlich fing der Vater doch an, seine Annie zu unterrichten, aber es wurden andere Lehrstunden als damals bei Thekla. Diese hatte haarscharf aufgemerkt, faßte jede Sache mit gleichem Eifer an, wollte lernen, lernen um jeden Preis. Annie aber hatte ihre Lieblingsstunden, ihre ausgesprochenen Neigungen – was nicht zu ihrem Gemüth, zu ihrer Phantasie sprach, das ließ sie ganz kalt, sie lernte es wohl, dem Vater zuliebe, aber es blieb gleichsam ein todtes Kapital in ihr – sie war auch hierin ihrer Mutter echtes Kind!

Der „gelehrte Gerold“ sah es – und sah es mit Freude! Hatte er an einer studierten Tochter genug, oder rührte ihn die Aehnlichkeit, die das Kind in allen Stücken mit der geliebten Frau hatte, so tief?

Gerold lebte mit beiden Töchtern auf seine Weise: Thekla war recht eigentlich das Kind seines Geistes – Annie das seines Herzens, und doch theilte er jedem von beiden mit! Auch in religiöser Beziehung hatte er es mit den Töchtern verschieden gehalten. Während er Thekla allmählich in die freie, feine Luft der philosophischen Gedankenhöhen hinaufgeführt, sie zu scharfem, logischem Denken erzogen und einen Freigeist aus ihr gemacht hatte, der alles hinnahm, wie es eben kam, als eine unerbittlche Nothwendigkeit, war es ihm ein unabweisliches Bedürfniß gewesen, Annies Kinderhändchen allabendlich zum Gebet zu falten, sie hinaufschauen zu lehren zu dem Gott, den ihre Mutter in ihrem reinen Sinn gesucht und gefunden, dem sie so unendlich oft für ihr Glück gedankt und der ihr geholfen hatte, das Scheiden zu ertragen.

So lebten diese drei Menschen ihr Leben, vereint in innigster Liebe und doch in den Grundelementen durchaus von einander verschieden, - der Vater gewissermaßen als Vermittler zwischen den beiden Töchtern stehend, welche die schärfsten Gegensätze darstellten. Und so ging es, bis Annie fünfzehn Jahre alt war. Da fanden sie eines Abends – es war wenige Tage nach Annies Konfirmation – den Vater in seinem Lehnsessel todt, friedlich und heiter anzusehen, und das lebensgroße Bildniß seiner Ellinor, das ihm gegenüber hing, lächelte auf den stillen Schläfer herab.

Das Herz sei nicht so ganz in Ordnung gewesen, erklärte der Hausarzt – aber an ein so rasches Ende hatte wohl niemand gedacht, niemand als der Verstorbene selbst. –

Die zurückgebliebenen Töchter fanden sich in ihrem tiefen, großen Schmerz noch inniger zusammen als bisher. Annie in ihrem Jammer war ganz fassungslos, und Thekla, obschon bis ins innerste Herz hinein wund, raffte sich gewaltsam empor, um die junge Schwester zu trösten. Sie hatte ihren Vater gehabt, jetzt hatte sie Annie, für die sie leben wollte!

Und Annie schloß sich, nachdem der erste heftige Schmerz ausgetobt hatte, immer mehr der ernsten, um mehr als zwanzig Jahre älteren Schwester an, begehrte immer mehr theilzunehmen an ihren Arbeiten, und das Trauerjahr, das den fröhlichen Verkehr des Hauses theils verbot, theils beschränkte, kettete die Schwestern so unauflöslich aneinander, daß Annie unwillkürlich nach Ablauf der Trauerzeit einen andern Maßstab an ihre Altersgenossen legte, sie mit Thekla zu vergleichen begann. Sie löste und lockerte das Band allmählich da, wo sie nicht fand, was sie suchte, ernstes geistiges Streben und lauterste Wahrheit – und sie knüpfte da an, wo ihr beides begegnete.

Sie hatten ein wunderschönes Zusammenleben geführt, die beiden Schwestern, und eben der Umstand, daß sie, so verschieden sie in Alter, Aussehen und Lebensweise voneinander waren, doch alles und jedes theilten, gab ihrem engen Verkehr einen eigenen Reiz, eine immer neue Frische. –

Heute schien Annie nicht geneigt, zu theilen, und das machte Thekla traurig. Es gab ja so vieles, was Annie genoß und was die ältere Schwester nur vom Hörensagen kannte: Bälle und Damenkaffees, Eislauf und Waldpartien, Reitfeste und Spazierfahrten. Auf alles dies hatte sie von jeher verzichten müssen, und es hatte Zeiten gegeben, da auch die „gelehrte“ Thekla Gerold, die Philosophin, heimlich bittere Thränen vergossen und eine brennende Sehnsucht empfunden hatte nach jenen Freuden, die sie nie genießen sollte.

Nun, das war freilich lange her, sie hatte es seitdem gelernt, ihre Bücher als ihre vertrautesten Freunde zu lieben, denen sie zahllose schöne und erhebende Stunden verdankte; jetzt begehrte sie für sich selbst nichts mehr von Lebensfreude und Genuß.

Aber für Annie, die das Dasein eines wirklichen jungen Mädchens

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