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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

nicht schlafen konnte und Licht anzündete, um zu lesen oder Medizin zu nehmen.

Die Verbindungsthür stand wie immer so auch jetzt offen. Schweigend geleitete Annie die Kranke, half ihr rasch und geschickt beim Entkleiden und küßte sie dann zur Gutenacht. Etwas wie Unentschlossenheit und hilflose Verlegenheit malte sich in den ausdrucksvollen Zügen des jungen Mädchens, während sie, ohne ein Wort zu sprechen, die gewohnten Handreichungen leistete. Auch Thekla blieb stumm, sie hatte die Augen gesenkt und vermied es, ihre Schwester anzublicken.

„Willst Du die Lampe brennend behalten, Thea?“

„Nein, lösche sie nur aus!“

„Gute Nacht, liebste Thea, schlaf’ wohl!“

„Du auch, Kleine!“

Und jetzt wurde es ganz still. Thekla lag regungslos, mit weitoffenen Augen, und starrte in den Lichtstreif, der sich durch die Thür des Nebenzimmers ein Stück in ihr Gemach hineinschlich; dann und wann huschte ein flüchtiger Schatten drüber weg – Annie, die geräuschlos hin- und herging und einzelne Stücke ihrer Gesellschaftskleidung verwahrte.

Sonst war das immer anders gewesen nach solch’ einem Fest – ganz anders! Da hatte Annie drüben im Wohnzimmer schon des Plauderns und Lachens kein Ende finden können, und Thekla mußte wiederholt mahnen, endlich zur Ruhe zu gehen. Aber dazu kam es noch lange nicht – die jüngere Schwester hatte dann immer noch auf der Bettkante der älteren gesessen und von neuem angefangen, zu berichten, so drollig und hübsch, daß Thekla oft ihre mütterlichen Pflichten vergaß und das „Kind“ in Gottes Namen erzählen ließ, … es war so reizend, ihr zuzuhören! O, sie hatte oft mit Feuereifer von diesem und jenem Herrn gesprochen, sich ihrer Triumphe gefreut – hatte sie doch schon mehr als einen Bewerber ausgeschlagen! – und begeisterte Schilderungen wie heute die von Conventius waren bei Annies lebhaft empfänglicher Natur gar nichts so Seltenes. Ein so seltsames Ausweichen aber und Verstummen war bisher noch nie dagewesen. Sollte – –

Und Theklas wandernde Gedanken, gleich aufgescheuchten Vögeln um ihr Nest flatternd, das ihnen plötzlich fremd erscheint, tauchten weit, weit rückwärts in ihre eigene aufdämmernde Kindheit und sahen, wie wenn es eine ganz andere Persönlichkeit wäre, das kleine, bleiche, verkümmerte Mädchen auf seinem hohen Polsterstuhl sitzen, oder auf dem Ruhebett liegen, immer, immer mit Schmerzen und ohne Mutter! Die hatte das Kind nie gekannt, sie war von ihm gegangen, als es erst wenige Monate zählte, aber es kam kaum dazu, sich nach ihr zu sehnen – der Vater war ja da! Er hob und trug seine kleine, er reichte ihr die Medizin und den Wein, er schnitt ihr das Fleisch zurecht, erzählte ihr Märchen und spielte mit ihr, und seine Hand war frauenhaft weich und behutsam wie die einer Mutter, seine Stimme immer sanft, wenn er zu dem Kinde sprach, seine Augen stets voll Liebe, wenn sie auf ihm ruhten. Den „gelehrten Gerold“ nannten ihn die Leute und wunderten sich, daß er, der einzige Sohn eines reichen, alten Patrizierhauses, sich nie zu einem Brotstudium entschlossen hatte – er würde sicher ganz hervorragendes geleistet haben. Er hatte sich nur den Doctor juris erwerben und sich dann mit der Rechtswissenschaft nur noch gelegentlich abgegeben – Philosophie und Sprachen, die alten wie die neuen, waren seine Steckenpferde, und wer Gelegenheit fand, ihn in eingehende Gespräche wissenschaftlichen Inhalts zu verflechten, der mußte über die Fülle von Kenntnissen staunen, die er hier vereinigt fand. Gerold ging sehr selten aus, empfing aber gern und häufig Besuche und konnte, sobald er sich mit diesen in interessante Fragen vertieft hatte, so anziehend und inhaltreich reden, daß seine Gäste Zeit und Stunde darüber vergaßen und nicht selten die Thurmuhr der nahen Lukaskirche Mitternacht schlug, ehe man sich entschließen konnte, aufzubrechen.

Seine kleine Tochter unterrichtete der Doktor selber, „nach eigenster Methode“, wie er lächelnd zu sagen pflegte. Thatsache war, daß das Kind bei dieser Methode erstaunlich rasch vorwärts kam, obgleich der Vater es eher zurückhielt, als antrieb; aber ein glühender Lerneifer, gepaart mit ungewöhnlicher Begabung und dem leidenschaftlichen Wunsch, dem Vater Freude zu machen, hob den jungeu Geist siegreich über alle Schranken hinweg, die der gebrechliche Körper ihm zu ziehen drohte. So kam es, daß

Thekla, „des gelehrten Gerold gelehrte Tochter“ wurde, daß sie Lateinisch lernte und Griechisch trieb, daß sie sich allgemach in die philosophischen Systeme vertiefte und mit ihrem ursprünglich schon so scharfen und dann vortrefflich beschulten Geist des Vaters junger „Amanuensis“ ward, wie er sie zu nennen liebte, sein bester Freund und Gehilfe, ja zuweilen, worauf sie unsäglich stolz war, sein Rathgeber. Denn Gerold verschmähte es durchaus nicht, ehrlich zuzugestehen, daß ein gewisses Ahnungsvermögen, feinfühliges Tasten und Finden weit mehr Frauen- als Männersache sei, und daß seine Tochter ihn auf solchem Gebiet zuweilen übertreffe.

In dies gelehrte Stillleben, dies Arbeiten und Streben zu zweien fiel urplötzlich wie ein zündender Blitz aus wolkenlosem Himmel Gerolds auflodernde Leidenschaft für ein junges, schönes und reiches Mädchen, das er im Hause eines seiner wenigen Freunde flüchtig kennengelernt hatte. Völlig umsonst, daß er sich an sein ergrauendes Haar, seine fünfzig Jahre, seine erwachsene Tochter erinnerte, daß er sich die Unmöglichkeit, dies junge bildschöne, lebensfrohe, vielumworbene Geschöpf für sich, den so viel älteren Mann, zu gewinnen, mit grausamer Schärfe vorhielt – umsonst, daß er es vermied, sie wiederzusehen, sogar, eine bisher unerhörte Thatsache, sich von seiner kranken Tochter trennte, um eine Reise zu machen und zu vergessen, – daß er sich wie ein Schwimmer in den reißenden Strom mit einer Art von Verzweiflung in seine Arbeiten stürzte. Die Leidenschaft hatte ihn gepackt und ließ ihn nicht los, er fühlte, er müsse zu Grunde gehen, wenn er nicht Gewißheit habe, und sei es die schmerzlichste. – – Aber das vollständig Unerwartete geschah: der einsame, gelehrte Witwer, der alternde Mann hatte es dem reizenden jungen Wesen angethan, alle Bitten und Vorstellungen, alle Warnungen vor der stillen Häuslichkeit, der überstudierten Tochter, dem bedenklichen Altersunterschiede fruchteten nichts, Ellinor bestand fest auf ihrem Willen und legte mit hellen Freudenthränen in den wunderschönen, leuchtenden Augen ihre Hand in die des überglücklichen Verlobten.

Die Art, wie Gerold seiner Tochter Thekla beichtete, die Worte, die er ihr damals sagte, voll felsenfesten Vertrauens in ihren Charakter, in ihre Liebe zu ihm, voll innigster Vaterzärtlichkeit – nie würde die Tochter das vergessen bis ans Ende ihres Lebens! Sie that alles, was sie konnte, sich der hohen Meinung, die der Vater von ihr hegte, werth zu zeigen, sie brachte der zukünftigen Mutter, die kaum so alt war wie sie selbst, Freundlichkeit und guten Willen entgegen – mehr konnte sie nicht!

Wie sie aber das schöne, liebliche Geschöpf zum ersten Mal sah, als es befangen über die Schwelle ihres Zimmers trat und ihr mit einem bittenden Blick die Hand hinhielt, da wurde ihr wie mit einem Zauberschlage die Gewalt klar, die ein solches Glückskind selbst über einen Mann, wie ihr Vater es war, auszuüben vermochte – da griff sie nach dem schüchtern entgegengestreckten Händchen, drückte sprachlos ihr Gesicht dagegen und brach in eine Fluth von Thränen aus. So fanden sich gleich beim ersten Male diese beiden grundverschiedenen Naturen zu einander, so hielten und behielten sie sich bis zum Scheiden.

Wie einen ganzen Strom goldigsten Sonnenscheins goß Ellinors Wesen seinen eigenartigen Zauber über das ernste, stille Patrizierhaus; von dem Herrn dieses Hauses und seiner Tochter, von den jetzt häufigeren Gästen bis zu den Bediensteten, Ellinors ehemaliger Wärterin Agathe, jetzt Wirthschafterin, und dem ältlichen Diener des Geroldschen Hauses Lamprecht, die sich nach kurzer Frist zu einem zufriedenen Paar verbanden – da war keiner, welcher der jungen Frau nicht blindlings ergeben gewesen wäre. Ihr glockenreines Lachen, ihre helle Stimme belebte Haus und Garten, Flur und Treppen.

Sie hatte die landläufige Töchterschulbildung genossen und zeigte, trotz großer Fassungsgabe, keine besondere Lust, ihre Kenntnisse noch irgendwie zu vermehren. „Ich bin ja meinem Richard klug genug!“ sagte sie zuweilen lachend. Und in der That – sie war ihm klug genug, mit ihrem raschen Geist, ihrer lebendigen Auffassung, dem glücklichen Humor und jener sprudelnden Einbildungskraft, die von trockenem Wissenskram wenig wissen will, dagegen das Gemüth wie ein frischer Bergquell erquickt und allen Dingen im Alltagsleben einen eigenthümlichen Hauch von Poesie zu geben weiß. Oft ließ sich die junge Frau gutmüthig mit ihrer geistigen Trägheit necken und lachte selbst am heitersten mit – die wenigsten nur wußten, daß es nicht nur Bequemlichkeit war,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 590. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_590.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)