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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

ist – das hat der alte Herr denn doch nicht übers Herz gebracht. Er grollt und schmollt und ist ganz aus dem Geleise gekommen, denn den Gardeobersten kann er nicht verschmerzen, und wenn’s sein Reginald zehnmal zum Generalsuperintendenten bringt! – So, mein gnädiges Fräulein, das wäre die Lebensgeschichte … meines Vetters … darf ich nun um meine Belohnung bitten?“

„Halt, halt, noch nicht!“ wehrte die schelmische Blondine ab. „Wo bleibt denn Ihr eigenes Lebensläufchen? Das ist doch gewiß auch sehr interessant!“

„Dieses bietet nicht viel des Bemerkenswerthen, soll daher thunlichst abgekürzt werden: Mein Vater, Onkel Reginalds jüngerer Bruder, war ein flotter Soldat – wohl etwas zu flott … mit einem Wort, er quittirte den Dienst und ging, die Empfehlung eines Freundes in der Tasche, nach den Azoren, wo besagter Freund einen reichen Vetter besaß. Seine Braut, eine junge Oesterreicherin, ließ er sich nachkommen, als er sich dort eine gesicherte Stellung erworben hatte, und so genieße ich wenigstens den Vorzug, sehr romantische und phantastische Kindheitserinnerungen zu besitzen, denn meine ersten acht Lebensjahre brachte ich auf den Azoren zu, von Schwarzen gewiegt, von Palmenwedeln gefächelt, von leuchtenden Kolibris und handgroßen, buntschillernden Schmetterlingen umflattert, von zahmen Hausschlangen, die zutraulich bei uns aus- und einschlüpften, umspielt. Da meiner Mutter das Klima nicht bekam, siedelten wir nach Europa über. Ich wurde in aller Eile ein wenig zurechtgestutzt – was meinen Lehrern mindestens eine ebenso peinliche Aufgabe war als mir selber – und dann in ein Kadettenhaus gesteckt. Das war denn nun freilich dort ein anderes Leben als auf den Azoren, und es spielten sich viele Auftritte mit mir als Mittelpunkt ab, die jetzt in der Erinnerung humoristisch wirken, aber als Erlebnisse weniger erheiternd waren. Meine Eltern behielt ich nicht lange mehr, und es fiel nun meinem Onkel Reginald die Pflicht zu, für mich zu sorgen. Daß er dies mit Vergnügen that, kann ich nicht behaupten; man hatte mich ihm als einen kleinen Satan geschildert, ein tropisches Gewächs ohne jede Zucht und Kultur, und da mich mein Onkel gleich sehr hart anfaßte, so hätte das bei meinem angeborenen Trotz leicht eine sehr böse Geschichte abgeben können, wäre nicht mein Vetter Reginald gewesen. Von dem Wechsel, der ihm zu Gebote stand, gebrauchte er kaum ein Drittel für sich, er konnte also seiner Neigung zum unbegrenzten Wohlthun ungehindert die Zügel schießen lassen. Nun – er fand eben, auch mir könnte er wohlthun, und ich kann sagen, er hat an mir gehandelt wie ein Bruder … nein, hundertmal besser, als man leibliche Brüder oft gegeneinander handeln sieht. Auch jetzt, da wir beide hier fremd hergekommen sind … er hat mir’s angeboten, mit ihm in einem Hause zu wohnen, er oben und ich unten, und ich weiß nur zu gut, was er sich dabei denkt und was er damit bezweckt! – Ich bin zu Ende, mein Fräulein!“

„Vielen Dank!“ sagte die Blonde freundlich. „Sie haben sehr hübsch erzählt, und wenn jedermann von Ihrem Herrn Vetter das wüßte, was ich weiß, so würde er allen noch tausendmal interessanter erscheinen, als es jetzt schon der Fall ist, und die Lukaskirche würde die Andächtigen nicht fassen. – Um was aber wollten Sie mich denn bitten?“

Der Lieutenant sah sie etwas besorgt von der Seite an.

„Um einige Aufklärung in betreff der jungen Dame dort drüben, die neben meinem Vetter sitzt. Ich fragte schon zuvor eine ihrer Freundinnen nach ihr, erhielt aber eine ziemlich ungnädige und kurze Antwort.“

„Ach, das ist nichts als purer Neid, glauben Sie ja kein Wort davon!“ platzte Hedwig Rainer – so hieß das blonde Mädchen – ziemlich ungestüm heraus. Und sie schilderte dem aufhorchenden Lieutenant Annie und Thea so warm und herzlich, daß ihr fast der Athem ausging.

„Das muß ja eine höchst anziehende Familie sein, diese Gerolds!“ sagte Lieutenant von Conventius endlich, als seine Nachbarin schwieg. „Kann man denn dort auch gelegentlich einen Besuch machen?“ „ Gewiß kann man das! Gerolds sind ungemein gastfrei und geben in jedem Winter ein paar Gesellschaften, bei denen auch getanzt wird. Nur schade – – für dies Jahr ist es zu spät!“

„Das wird den Kameraden sehr leidthun! Parsifal war Feuer und Flamme für Fräulein Gerold!“

„Parsifal? Wer ist das?“

„Entschuldigen Sie! Es plaudert sich so ungezwungen und angenehm mit Ihnen, Fräulein Rainer, daß ich in der Einbildung lebte, wir seien alte Bekannte. Also der ursprüngliche Name dieses Kameraden – der dort links sitzt mit dem martialischen rothen Schnauzbart – ist Thor von Hammerstein. Er ist übrigens trotz seiner grimmigen Miene ein lammfrommes Geschöpf und schlechten Witzen gegenüber ziemlich wehrlos. Der bartlose bewegliche Kamerad rechts drüben ist der Lieutenant Gründlich, er muß seines Namens wegen viel ausstehen, hat aber Haare auf den Zähnen und kann sich seiner Haut wehren.“ – –

Die Stimmung rund um die Tafel wurde immer belebter, man unterhielt sich gut, und die Ulanen, die alle neben hübschen Mädchen untergebracht waren, fanden, daß die Weylands ein reizendes Haus machten und daß es schon der Mühe lohne, sich demselben zu widmen. Freilich fanden sie es in der Stille etwas wunderlich, daß gerade das unstreitig schönste Mädchen der ganzen Gesellschaft zwischen zwei Zivilisten gesetzt worden war – anziehende, gescheidte Männer ohne Zweifel, die sich auch mit Ehren sehen lassen konnten – aber man hätte diese entzückende Erscheinung von Rechts wegen einem Ulanen zutheilen müssen!

Unter der Wirkung des Weines, der verschiedenen Tischreden und der aufmunternden Blicke ihres Mannes fühlte auch Frau Hedwig Weyland die Bürde ihrer „Ahnungen“ minder schwer als zuvor. Sie versuchte es, sich selbst recht ernstlich auszuschelten. Alles um sie her war so hell, so fröhlich und festlich, und sie wollte ihre Zeit mit dunkeln Grübeleien verderben? Robert hatte recht, sie müßte zu klug für solche Thorheiten sein! Nicht weit von ihr saß ihr Liebling, Annie Gerold, und unterhielt sich allem Anschein nach vortrefflich. Nun ja! Dafür hatte sie, Frau Weyland, ihr auch die zwei bedeutendsten Männer aus der ganzen Gesellschaft zu Tischnachbarn ausgesucht! Sie und Pfarrer Conventius waren ohne Zweifel die beiden prächtigsten Erscheinungen an dieser von hübschen Menschen so reich umgebenen Tafel. Aber auch Professor Delmont sah vorzüglich aus! Wo hatte denn sie, Hedwig Weyland, bei dem Anstandsbesuch Delmonts ihre sonst so guten Augen gehabt? Das war ja ein ausfallend hübscher Mann, zumal wenn er wie eben jetzt lachte und seine mächtigen Augen so wunderbar glänzten! Freilich – damals bei dem Besuche hatte er gar nicht gelacht! –

Eben jetzt, wie Frau Weyland ihn schärfer ansah, verwandelte sich sein Gesicht von neuem – ein glückliches Leuchten dämmerte in seinen Augen auf und verklärte das ganze Antlitz, dem die tief in die Stirn fallenden dichten braunen Haare etwas von dem Anblick eines gezähmten Löwen gaben. Dann wieder, als hätte eine harte Hand allen Jugendglanz und allen Frohsinn von diesen Zügen hinweggewischt, waren sie plötzlich wieder wie kalter Marmor, aus dem die großen Augen mit dem eigenartigen Räthselblick schauten.

Und angesichts dieses raschen Wechsels schoß der beobachtenden Frau heiß und jäh wieder dieselbe unerklärliche Angst zum Herzen, die sie den ganzen Abend hindurch bekämpft hatte und jetzt fast ganz verjagt zu haben glaubte. Sie hätte aufspringen, hineilen, Annie bei der Hand fassen und mit ihr irgend wohin flüchten mögen, sie kam sich selbst unverantwortlich vor, daß sie dem jungen Mädchen gerade diese Nachbarschaft gegeben hatte. Freilich, sie hatte es gut gemeint; was wußte sie denn von Delmont? Daß er sich einen großen Namen gemacht hatte, daß er für einen berühmten Künstler galt – sie hatte gedacht, das würde Annie anziehen – und in der That – so schien es – sie hatte ihren Willen! –

„Nach Tisch – was thut man da?“ hatte Delmont soeben gefragt.

Und Annie hatte lachen müssen.

„Was man da thut? Komische Frage, nicht wahr, Herr von Conventius? Professor Delmont muß an den Ufern des Ganges und des Nils jeden Begriff einer stilgerechten Abendgesellschaft in Deutschland verloren haben. Was soll man denn nach solchem Essen anderes beginnen als tanzen?“

Sein Gesicht wurde finster.

„Dann sind Sie uns beiden also verloren!“ sagte er kurz.

„Ihnen beiden? Sie tanzen auch nicht, Herr Professor? Gar nicht? Nicht einmal die solideste Française?“ In ihrem Ton klang eine ehrliche Enttäuschung mit.

„Ich und Française tanzen! Eine schöne Rolle würde ich dabei spielen! Ich glaube, es ist fünfundzwanzig Jahre her, seit ich zuletzt getanzt habe!“

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