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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)


zu beschäftigen und aus allem etwas zu ziehen, sei es, was es sei: eine Nutzanwendung – ein Beispiel – ein Vergnügen – oft auch einen guten Witz. Ich habe jederzeit etwas, was mir zu denken, zu überlegen oder zu lachen giebt!“

Delmont wendete sich langsam um, – er hatte seine linke Nachbarin bisher weder bemerkt, noch sich ihr vorstellen lassen, eine Unterlassungssünde, die ihm jetzt erst fühlbar wurde, die er aber im Augenblick nicht gutmachen konnte, ohne das Gespräch nebenan zu unterbrechen.

Die junge Dame hatte sich ganz von ihm abgewendet, er sah nur ihre schöne, geschmeidige Gestalt in einem mattweißen, enganliegenden Kleide, einen leuchtend zarten Nacken, dessen wundervolle Form das braune, hoch emporgenommene Haar völlig frei ließ. Dies Haar wies hier und da einen schwachen goldenen Reflex auf, es war mit einem schmalen Kamm von edler, altdeutscher Arbeit festgesteckt und hatte weiter keinen Schmuck. Die Augen des Herrn, zu dem das Fräulein sprach, hafteten mit offener Bewunderung auf seiner Nachbarin. –

„Wollen Sie mir den Gegenstand Ihres Bildes nicht verrathen, Herr Professor?“ fragte wieder die dünne, durchdringende Kinderstimme neben Delmont.

Er drehte sich wie eine Puppe zu seiner Dame herum.

„Nein!“ Dann, sich besinnend, wie schroff das geklungen haben müsse, fügte er hinzu: „Sie werden ja bald sehen, mein Fräulein!“

„Ah so! Es soll eine Ueberraschung sein?“ –

„Ja – eine Ueberraschung!“ –

„Ihr Herr Vater beschäftigt sich viel mit Ihnen, Fräulein Gerold?“ fragte Reginald von Conventius auf der andern Seite.

„Er that es bis zu seinem Tode – vor vier Jahren wurde er uns genommen!“ Die Sprecherin, an Selbstbeherrschung gewöhnt und keinen Augenblick vergessend, daß Ort und Gelegenheit jeden Gefühlsausbruch ausschlossen, konnte es doch nicht verhindern, daß es leise um ihren schönen Mund zuckte – sie athmete tief auf.

„Es kommt mir vor, als müßte jeder Mensch, der meinen Vater nicht gekannt hat, dies als einen Verlust beklagen – Sie werden vielleicht darüber lächeln, es unbegreiflich finden, Herr von Conventius.“

„Keins von beiden, mein Fräulein! Denn mit meiner Mutter ist es mir ganz ebenso ergangen.“

„Und sie ist auch todt?“

„Auch todt!“ kam es wie ein trauriges Echo zurück.

Die beiden, von Lärm und Lust, von Lachen und Heiterkeit umringt, sahen einander verständnißvoll in die Augen; es gab schon ein gemeinsames Band zwischen ihnen.

Conventius hatte feine gesellige Formen und ließ keine seiner Pflichten außer acht, er goß aufmerksam Annies Glas voll, hob ihr den herabgefallenen Blumenstrauß auf und hatte nichts vom Geistlichen an sich – dagegen alles vom Weltmann.

„Man hat mir gesagt,“ begann Annie von neuem, „Sie würden am nächsten Sonntag zum ersten Male in der Lukaskrche predigen – ist das wahr?“

„Jawohl; es ist eine schöne alte Kirche mit bewundernswerther

Die feierliche Eröffnung des X. internationalen medizinischen Kongresses in Berlin am 4. August 1890.
Zeichnung von H. Lüders.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 584. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_584.jpg&oldid=- (Version vom 24.8.2022)