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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

daß dieselben für die Tuberkelbacillen keinen geeigneten Nährboden mehr abgeben. An und für sich ist eine solche Ansicht und die aus derselben gezogene Schlußfolgerung ja nicht ganz unlogisch; haben wir doch gegen eine Reihe von Krankheiten, welche nachweislich ebenfalls durch Ansteckung infolge Berührung oder Ausdünstung entstehen, ein entsprechend geartetes Heilmittel, z. B. gegen das Wechselfieber Chinin, gegen den akuten Gelenkrheumatismus das salicylsaure Natron etc. Aber der Erfolg, den diese Heilmethode mit den Hunderten von Mitteln, vom benzoësauren Natron und Arsen angefangen bis zum Creosot und zur Einathmung überhitzter Luft, gegen die Schwindsucht aufzuweisen hat, ist mindestens gleich Null, wenn sie nicht, was wahrscheinlicher ist, sogar schädlich wirkt. „Die arzneiliche Behandlung der Lungenschwindsucht hat vollständig Bankerott gemacht“, urtheilt Professor Gerhardt-Berlin.

Trotzdem bricht sich die Ansicht, daß die Lungenschwindsucht eine heilbare Krankheit ist, immer mehr Bahn, dank den Erfolgen, welche hauptsächlich die besonders für Schwindsüchtige eingerichteten Heilanstalten in immer steigendem Maße aufzuweisen haben. Eine Statistik der letzten in der Heilanstalt zu Reiboldsgrün behandelten 2000 Fälle von wirklicher bacillärer Lungenschwindsucht lieferte folgendes Ergebniß: auf 100 Kranke entfallen geheilt 13,66%, bedeutend gebessert (d. h. sie verließen die Anstalt zu früh) 28,02%; gebessert (d. h. meist zu spät gekommen und zu früh abgereist) 28,60%, ungebessert 25,20%, gestorben 4,52%; also 70,28% thatsächliche Erfolge, welche sich noch ganz wesentlich vermehren und befestigen ließen, wenn die Kranken sofort nach den ersten Anzeichen der Erkrankung eine Heilanstalt aufsuchten und lange genug darin verblieben. Ich bin der festen Ueberzeugung, daß mindestens 75% aller Schwindsüchtigen vor einem frühzeitigen Tode bewahrt und wieder in ihrem Berufe arbeitsfähig werden könnten, wenn dieselben zeitig einer Heilanstalt für Lungenkranke übergeben würden und lange, etwa 3 Monate, in derselben verweilten. Diese Ueberzeugung drängt sich immer weiteren Kreisen auf, besonders auch den Führern in der ärztlichen Wissenschaft. Während seit meinem ersten Artikel in der „Gartenlaube“ (vergl. Seite 562 des Jahrg. 1882) manches Jahr verging, ohne daß viel mehr als die eine oder andere Zustimmung zu meinem Vorschlage der Errichtung von Volksheilstätten für Lungenkranke sich kundgab, scheint die Sache jetzt in Fluß zu kommen und durch die berufensten Hände in die richtigen Bahnen geleitet zu werden. Die Beschaffung der nöthigen Geldmittel spielt auch hier wieder wie so oft eine Hauptrolle.

In Berlin war schon vor mehreren Jahren bei den städtischen Behörden der Gedanke angeregt worden, durch Errichtung besonderer Anstalten für Tuberkulöse zu sorgen. Die Frage wurde der städtischen Deputation für Gesundheitspflege vorgelegt (30 Mitglieder) und von dieser einem Unterausschuß von Sachverständigen zur Beratung übergeben. Dieser Ausschuß hatte nun der Deputation für Gesundheitspflege folgende Erklärung vorgeschlagen: „Mit Rücksicht auf die große und voraussichtlich zunehmende Zahl der chronischen Brustkranken, welche in die städtischen Kranken- und Siechenanstalten aufgenommen werden müssen, ist die Errichtung einer besonderen Heil- und Pflegeanstalt für Lungenkranke in der Umgebung der Stadt dringend wünschenswerth.“

Erst am 22. Oktober 1889 kam dieser Vorschlag zur Beschlußfassung vor die städtische Deputation für Gesundheitspflege, und merkwürdigerweise wurde in derselben fast einstimmig beschlossen, die ganze Angelegenheit auf etwa ein Jahr zu vertagen. Als Grund hierfür wurde angegeben einmal die Rücksicht auf die großen anderweitigen gesundheitlichen Aufgaben, welche die Stadt Berlin in der nächsten Zeit zu erfüllen habe, sodann die Ansicht der in dem Unterausschuß anwesenden Aerzte, daß die Zahl der Ansteckungen mit Schwindsuchtsgift im Verhältniß zu der großen Anzahl Lungenkranker doch eine ganz außerordentlich geringe sei. Ein dem Ausschuß angehöriger Oberarzt eines der größten Berliner Krankenhäuser habe geltend gemacht, daß er tausend und mehr Tuberkulöse behandelt habe, ohne je einen vollständig sicheren Fall von Ansteckung festgestellt zu haben.

So wertvoll dieses Geständniß gerade für die Sonderheilanstalten für Lungenkranke ist, und so sehr diese Erfahrung mit meiner eigenen übereinstimmt, so wenig berührt diese Begründung den Kern der Angelegenheit. Denn es sollen nicht Volksheilstätten für Lungenkranke gebaut werden, um die Gesunden vor Ansteckung zu bewahren – das erzielt man viel billiger und einfacher durch die Vernichtung des tuberkulösen Auswurfes – sondern um die von der Tuberkulose Befallenen zu heilen. Obgleich nun auch in gut geleiteten allgemeinen Krankenhäusern Besserungen vorkommen – nach Angabe des oben erwähnten Krankenhausoberarztes bis zu 32,7% – so besteht in solchen Krankenhäusern doch der große Uebelstand, daß Lungenkranke nicht gern lange in denselben behalten werden. Nach dem Geständniß eines andern Berliner Krankenhausleiters werden den von akuten Leiden wie Typhus, Lungenentzündung und andern befallenen, aber durchweg heilbaren und der ärztlichen Fürsorge während der verhältnißmäßig kurzen Dauer ihres Leidens weit bedürftigeren Kranken gegenüber die Lungenschwindsüchtigen mehr oder weniger vernachlässigt und, weil sie den nötigen Platz für Schwerkranke wegnehmen, zu zeitig entlassen. Daß es da bald wieder beim alten sein wird, ist ja selbstverständlich, und es verringert sich damit der Prozentsatz der dauernd Gebesserten bis aus ein verschwindendes Maß.

Von der städtischen Deputation für Gesundheitspflege auf ein Jahr zurückgestellt, wurde die Frage der Errichtung von Schwindsuchtsheilstätten für Unbemittelte vom Geheimen Rath Professor Leyden in der Sitzung des „Vereins für innere Medizin“ vom 20. Januar dieses Jahres wieder vor einer andern, lediglich ärztlichen Hörerschaft auf die Tagesordnung gebracht, um eine lebhafte Erörterung hervorzurufen. Leyden gesteht ebenfalls, daß mit Arzneimitteln gegen die Schwindsucht nichts auszurichten sei, sondern daß der Schwerpunkt der Behandlung in dem hygieinisch-diätetischen Verfahren zu suchen sei, jenem Verfahren, welches den Körper zu kräftigen und widerstandsfähig zu machen bestrebt ist, damit er die Krankheitserreger nach und nach zu überwinden und auszuscheiden befähigt wird. Ferner gesteht er, daß nur die Tuberkulösen in den vorgeschrittenen Krankheitsstufen und mit schweren Nebenerkrankungen in Hospitälern behandelt werden können und sollen, daß aber die Mehrzahl der Tuberkulösen in den gewöhnlichen Krankenhäusern nicht in solcher Weise behandelt werden können, welche geeignet ist, die überhaupt erreichbaren Erfolge bei ihnen auch wirklich zu erzielen. Die Behandlung der Tuberkulösen in besonderen Heilanstalten sei ein wesentlicher Fortschritt der Neuzeit. Auch bespricht er dann die Ansteckungsgefahr der Schwindsucht und ist ebenfalls der Ansicht, daß dieselbe in gut geleiteten Anstalten mit Sicherheit vermieden werden könne. „Nach Beseitigung dieser Bedenken,“ sagt er, „steht die Anstaltsbehandlung wieder in vollstem Ansehen, woran sich der Wunsch knüpfen muß, die Vortheile einer solchen Behandlung einer größeren Zahl dieser unglücklichen Kranken zugänglich zu machen, und zwar entspricht es den großen menschenfreundlichen Bestrebungen unserer Zeit, diese Vortheile nicht bloß wie bisher den besser gestellten Ständen, sondern auch den weniger begüterten Gesellschaftsklassen zugänglich zu machen.“

Am Schlusse seiner Rede kommt er daraus zurück, daß es zweckmäßig und erfolgreich sein würde, wenn von ärztlicher Seite die Anregung zur Errichtung solcher Heilanstalten in der Umgebung Berlins, in welcher es gewiß an den geeigneten Räumlichkeiten nicht fehle, in die Hand genommen würde.

An diesen Vortrag schloß sich in den folgenden Sitzungen vom 3. und 20. Februar eine Besprechung, aus welcher zunächst leider zu ersehen war, daß, trotzdem Berlin durch seine neueren hygieinischen Einrichtungen zu einer sehr gesunden Stadt geworden ist, in welcher die Sterblichkeit der Bevölkerung vom Jahre 1075 bis 1885 von 29,7‰ auf 24,3‰ heruntergegangen ist, doch die Tuberkulose sich in Bezug auf ihre tödlichen Ausgänge in nichts gebessert habe; im Gegentheil starben im Jahre 1876 219, im Jahre 1885 aber 283 auf das Tausend der Gestorbenen an Schwindsucht, das heißt in einem Jahre in Berlin allein 4472 Personen. Und was sagte im Laufe der Verhandlung einer der Redner? „Was thun wir im allgemeinen der tuberkulösen Erkrankung gegenüber? Wir lassen es so gehen, wie es Gott gefällt … Durch die Errichtung von Heilstätten für Tuberkulöse wird man dem Elend der Armut entgegenarbeiten und den Kranken für sich, für seine Familie und für den Staat erhalten.“

Ein anderer Redner meinte: „Vor der Entdeckung des Tuberkelbacillus ist die Ansteckungsgefahr unterschätzt worden, jetzt wird sie überschätzt. Alle für dieselben beigebrachten Gründe sind rein theoretischer

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 571. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_571.jpg&oldid=- (Version vom 27.1.2024)