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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Ganz verdutzt blickte ihr Rainer in das von wahrhaftigen Thränen überströmte Gesicht; dann aber schlug er mit der Hand auf den Tisch und rief so laut, daß alle auf der Bühne Anwesenden es nothwendig hören mußten:

„Ja, mein Fräulein, wenn Sie glaubten, daß hier Komödie gespielt würde wie in einem Mädchenpensionat, so hätten Sie wahrhaftig nicht zum Theater gehen sollen! Wir wollen die Scene wiederholen; aber ich bitte Sie dringend, nun endlich etwas mehr aus sich herauszugehen, als es Ihnen bisher gefällig war.“

„Es ist unmöglich,“ sagte sie leise, „ich habe meine Kräfte überschätzt – ich kann dies nicht spielen.“

Die Stirn des Direktors furchte sich tiefer; aber er schlug sofort einen sehr höflichen und sehr kalten Ton an:

„Sie können nicht?“ fragte er, die Arme über der Brust verschränkend. „Das ist sehr überraschend! Und warum können Sie nicht, mein Fräulein?“

„Ich vermag Ihnen den Grund nicht zu nennen; aber ich bitte Sie von ganzem Herzen: erlassen Sie es mir, heute abend aufzutreten!“

„Sie müssen eine seltsame Vorstellung von dem Geschäftsgange und von der Ordnung an einem Theater haben, daß Sie mir in letzter Stunde ein solches Ansinnen stellen können. Natürlich kann von solcher Erlaubniß nicht die Rede sein. Wir werden zu Ende probiren und Sie werden spielen, wie es Ihre Pflicht ist. Den Luxus derartiger Launen werden Sie sich vielleicht gestatten dürfen, wenn Sie einmal die erste Liebhaberin an einem Hoftheater sein werden.“

„Aber ich habe nicht mehr den Ehrgeiz, es zu werden,“ rief Marie,durch die gaffenden Gesichter der herzudrängenden Genossen aufs äußerste gepeinigt, in heller Verzweiflung. „Ich fühle es, daß ich keine Schauspielerin bin und daß ich es niemals sein werde! Sie haben kein Recht, das Unmögliche von mir zu fordern.“

Das Antlitz des berühmten Künstlers schien gleichsam zu erstarren in seiner eisernen Ruhe.

„Wir wollen doch sehen, mein Fräulein, ob ich nicht das Recht dazu habe. Ich empfehle Ihnen, nach Ihrer Heimkehr den von Ihnen unterschriebenen Vertrag durchzusehen.“

„Wenn Ihnen dieser Vertrag wirklich die Macht geben sollte, mich zu zwingen, so werden Sie aus Barmherzigkeit auf ihre Ausübung verzichten. Noch einmal beschwöre ich Sie: geben Sie mich frei!“

„Die Erkenntniß Ihrer Unfähigkeit kommt Ihnen leider zu spät. Sie werden sich erinnern, daß ich es an wohlgemeinten Warnungen nicht fehlen ließ, als Sie mich mit ebenso flehentlichen Bitten um Aufnahme in meine Gesellschaft bestürmten. Damals hatte ich herzlich wenig Lust, Ihnen zu willfahren; aber ich war leichtsinnig genug gewesen, auf dem Bazar mein Wort zu verpfänden, und die Welt weiß, was Konstantin Rainers Wort bedeutet. Nun habe ich mich wochenlang mit Ihnen abgemüht, Ihr Auftreten ist seit acht Tagen angekündigt, und ich muß unabänderlich darauf bestehen, daß Sie Ihren Verpflichtungen gewissenhaft nachkommen.“

Eine namenlose Bitterkeit quoll in Mariens Herzen auf, als sie daran dachte, wie ganz anders damals Rainer an ihrem Verkaufstische gesprochen hatte; aber sie fühlte doch, daß er in seinem Rechte sei, und sie war auch zu stolz, sich noch weiter durch nutzlose Bitten zu demüthigen.

„Gut,“ sagte sie, ihre Thränen trocknend und das gesenkte Köpfchen mit festem Entschluß erhebend, „ich werde heute abend spielen; doch ich fürchte, daß ich nicht die Kraft dazu haben werde, wenn diese Probe noch länger währen soll.“

Der Direkor zuckte mit den Achseln und sah auf seine Uhr.

„Meinetwegen!“ warf er nachlässig hin. „Gehen Sie nach Haus und bemühen Sie sich, etwas ruhiger zu werden. In diesem Zustande würden Sie wohl ohnedies blutwenig lernen.“

Ohne sie zu grüßen, wandte er ihr den Rücken und ging davon. Die jugendliche Naive des Schillertheaters, welche Marie bisher keines Blickes gewürdigt hatte, eilte jetzt mit allen Anzeichen zärtlichster Theilnahme auf sie zu. Sie mochte wohl in der letzten Viertelstunde erkannt haben, daß von dieser Nebenbuhlerin keine Gefahr zu besorgen sei. Aber die brillantengeschmückte Hand, die sie ihr mit einem süßlich ermuthigenden Wort entgegen streckte, blieb unberührt. Marie von Brenckendorf dankte nur mit einem stummen Neigen des Köpfchens und verließ raschen Schrittes die halbdunkle Bühne.

Gedemüthigt und beschämt, mit niedergeschlagenen Augen, als dürfte sie niemand mehr gerade ins Antlitz sehen, eilte sie ihrer Wohnung zu. Wohl hatte sich ihre Erregung gesänftigt; aber die ruhigeren Erwägungen, denen sie jetzt Gehör geben mußte, waren wenig geeignet, die trüben Schatten aus ihrer Seele zu verscheuchen. Sie mußte ja dem Direktor fast Dank dafür wissen, daß er ihrer Bitte um eine sofortige Entlassung nicht Gehör gegeben hatte. Die bescheidene Geldsumme, mit welcher sie nach Berlin gekommen war und welche sie während der letzten Jahre fast unberührt erhalten hatte, war jetzt für den Miethzins und die Einrichtung ihrer kleinen Wohnung fast draufgegangen. Die von Rainer bewilligte Monatsgage, welche seiner eigenen Versicherung nach für eine Anfängerin außergewöhnlich hoch war, mußte fortan hinreichen, alle ihre Lebensbedürfnisse zu bestreiten. Ihr Fortfall würde sie in die peinlichste Nothlage versetzt haben; denn es stand unumstößlich fest in ihrem Herzen, daß sie ihres Bruders Beistand unter keinen Umständen annehmen dürfe.

Sie fühlte sich tief unglücklich unter dem zermalmenden Druck dieser Erkenntniß. Alle ihre Rachegedanken waren ja längst verflogen, und nur wie an etwas völlig Unbegreifliches erinnerte sie sich noch an ihren kurzen, thörichten Wahn, daß ihr an der Seite Engelberts von Brenckendorf die Blume des Glückes erblühen könnte. Sie empfand das Ende des phantastischen Traumes jetzt viel mehr als eine Befreiung denn als eine Schmach, und um so schwerer mußte sie unter dem Bewußtsein leiden, sich freiwillig in eine Sklaverei begeben zu haben, die ihr nach den heutigen Erfahrungen fürchterlicher erschien als jede andere. Was bedeutete die schwerste und mühseligste Arbeit ums tägliche Brot neben dieser entwürdigenden Preisgebung ihrer Seele, neben diesem widerwärtigen Gaukelspiel mit den reinsten und heiligsten Empfindungen ihres Herzens!

Und als ob es nicht genug sei an den quälenden Vorwürfen ihres eigenen Gewissens, klangen ihr auf diesem Heimwege unaufhörlich Lothars warnende und bittende Worte im Ohre nach. Er wußte ja nicht, wie nahe daran er gewesen war, mit seiner treuherzig schlichten Beredsamkeit, mit der unwiderstehlichen Sprache seiner klaren, guten Augen all ihren trotzigen Stolz zu brechen; er wußte ja nicht, welchen schweren Kampf sie bestanden hatte, um endlich doch noch die Kraft zu dem harten, abweisenden Wort zu finden, das ihn für immer aus ihrer Nähe verbannte!

Für immer! Irgend etwas in ihrer Brust krampfte sich mit herbem, fast körperlichem Schmerz zusammen, wenn sie daran dachte, daß er nie mehr kommen würde, ihr seine Hand zu bieten, daß sie nie mehr den Klang seiner Stimme vernehmen würde, die ihr bei jenem letzten Besuche so mahnend ernst und doch so wundersam warm in das Herz gedrungen war. Sie konnte es nicht bereuen, ihn vertrieben zu haben, denn sie hatte ja nur gethan, was – wie sie meinte – eine grausame, unabweisliche Pflicht ihr gebot. Nur daran durfte sie nicht denken, daß ihn auf ihrer Schwelle eines Meuchelmörders Waffe getroffen und daß sie diesen Elenden ihren Freund genannt hatte. Daß Lothar ihr grollte, sie mußte es ja ertragen; aber daß er sie nun sicherlich von Grund seiner Seele verachtete, das war die martervollste von allen Qualen, welche sie in diesen unglückseligen Tagen bestürmten. Wie zu ihrer eigenen Peinigung bemühte sie sich jetzt, jedes seiner Worte in ihrem Gedächtniß wachzurufen. Jetzt glaubte sie an seine Uneigennützigkeit und Wahrhaftigkeit, jetzt, da es zu spät war, es ihm zu sagen, jetzt, da es keine Brücke mehr gab über den gähnenden Abgrund, der sie von ihm trennte! –

Todmüde und mit heftig schmerzenden Schläfen erreichte Marie ihre Wohnung. Die stumpfe Gleichgültigkeit in dem häßlichen Gesicht der Aufwärterin berührte sie fast wie eine Wohlthat. Diese wenigstens wußte nichts von ihrer Erniedrigung und nichts von der brennenden Scham, mit welcher das Bewußtsein jener Erniedrigung ihre ganze Seele erfüllte.

„Ich habe da draußen auf dem Gange soeben einen komischen Fund gemacht, Fräulein,“ rief die Frau, welche es in ihrem Stumpfsinn nicht beachtet hatte, daß Marie wie gebrochen auf das Sofa niedergesunken war; „der Himmel mag wissen, wie sich das Ding da hinter den Schrank verirrt hat!“

Ohne Theilnahme erhob Marie den Kopf. Sie sah, daß es ein kleines, anscheinend sehr altes Bild war, was die Aufwärterin

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 539. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_539.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)