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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

„Mit der lebhaftesten Freude? – Ach, das ist unmöglich!“

„Gewiß! Das Leben unter dem Theatervölkchen, und wäre es auch nur von kurzer Dauer, ist sicherlich besser als irgend eine andere Schule dazu angethan, mein Schwesterchen von allem aristokratischen Hochmuth und von allen Brenckendorfschen Vorurtheilen gründlich zu befreien. Da hat man seinen eigenen Stolz und schaut mit dem Lächeln mitleidiger Ueberlegenheit auf alle die kleinen Sterblichen herab, die da meinen, sich auf ihre Geburt, auf ihren Reichthum oder auf ihre Gelehrsamkeit etwas einbilden zu können. Und gerade, weil in der eigenthümlichen Selbstüberschätzung dieses Standes etwas so ungeheuer Lächerliches liegt, wird Marie – wie ich von ihrem klaren Blick und von ihrem offenen Sinn mit Sicherheit erwarte – endlich das rechte Verständniß für die Lächerlichkeit jeglichen Hochmuths, er nenne sich nun Künstlerstolz oder Standesbewußtsein, gewinnen.“

Cilly schaute vor sich nieder. Sie fühlte sich getroffen; aber sie war doch nicht beleidigt, und es drängte sich ihr nicht wie sonst eine trotzig spöttische Erwiderung auf die Lippen.

„So halten Sie gewiß auch mich für recht hochmüthig?“ fragte sie plötzlich, die dunkeln Augen zu Wolfgang erhebend. Er lächelte ein wenig und zuckte mit den Achseln.

„Unsere neuerliche Bekanntschaft ist eine so flüchtige geblieben, verehrte Cousine, daß ich mich jedes Urtheils enthalten möchte. Und überdies – was kann Ihnen daran gelegen sein?“

„Das ist deutlich!“ meinte sie, indem sie sich erhob. „Aber vielleicht thun Sie mir dennoch ein wenig unrecht. Man braucht wohl nicht nothwendig erst unter die Schauspieler zu gehen, um sich von seinen Vorurtheilen heilen zu lassen. – Doch – um den eigentlichen Zweck meines Hierseins nicht zu vergessen – Sie werden sich also bei Marie für mich verwenden?“

„Ich werde es versuchen! Aber wenn die ablehnende Haltung meiner Schwester, wie ich vermuthe, nicht so sehr aus Groll und Mißachtung als aus dem Wunsche entspringt, nicht Unfrieden zu stiften zwischen Ihnen und Ihren Angehörigen, so werden meine Bemühungen wahrscheinlich von geringem Erfolge sein.“

Cilly warf den Kopf zurück und schürzte die frischen Lippen.

„Sagen Sie ihr in diesem Falle, das sei eine überflüssige Sorge! Meine Angehörigen werden inzwischen längst erfahren haben, wie wenig ich ihr Verhalten gegen Marie gutheiße. Sie werden mir also schreiben, nicht wahr?“

„Wie Sie es befehlen, verehrte Cousine!“

Sie machte eine kleine Bewegung, als ob sie ihm zum Abschied die Hand reichen wollte, da er sich aber gar so förmlich verbeugte, zog sie dieselbe wieder zurück und that ein paar Schritte nach der Thür. Doch auf dem halben Wege blieb sie wieder stehen:

„Warum nennen Sie mich denn immer ‚verehrte Cousine‘, und nicht einfach ‚Cilly‘? Sind Sie mir noch böse von – nun, von neulich her? Kann ein Mann wirklich so nachtragend sein?“

„Aber ich denke gar nicht daran, Ihnen böse zu sein,“ versicherte Wolfgang aufrichtig. „Meine Bemerkungen über einen Ihrer besten Freunde mußten Sie ja in der That reizen.“

Sie wandte das Köpfchen mit einer raschen Bewegung, als ob sie ihm hastig erwidern wollte, daß Prinz Lamoral längst aufgehört habe, einer ihrer besten Freunde zu sein. Aber jene unerklärliche Scheu, deren sie noch immer nicht ganz Herrin geworden war, mochte sie im letzten Augenblick daran hindern, es auszusprechen. Ihren Blick auf ein kleines, an keineswegs auffälliger Stelle befindliches Wandbrett heftend, sagte sie vielmehr ganz unvermittelt: „Was für ein merkwürdiges Buch haben Sie da? – Ist es erlaubt, es auzusehen?“

Er hatte den bezeichneten Gegenstand von seinem Platze genommen und vor sie hin auf den Tisch gelegt.

„Ein Album für Photographien,“ sagte er, „die Erinnerungsgabe eines amerikanischen Freundes.“

Dies Album hatte in der That sicherlich nicht seinesgleichen; denn der obere Deckel bestand in der Hauptsache aus einem Stück gewöhnlichen, an der Oberfläche fast verkohlten Holzes. Aber er war von einer prächtig gearbeiteten Umrahmung aus massivem Golde umgeben und trug in seiner Mitte einen Lorbeerkranz aus demselben kostbaren Stoffe.

„Wie sonderbar!“ meinte Cilly kopfschüttelnd. „Knüpft sich an dies halb verbrannte Holz etwa eine eigene Geschichte?“

„Es stammt aus den Trümmern des ‚Grand Hotel‘ in Chicago, das vor etwa Jahresfrist ein Raub der Flammen wurde. Die Tochter meines Freundes und ich, wir waren zufällig die letzten, welche das brennende Gebäude lebend verließen. Zum Gedächtniß an diese Fügung überraschte der Vater mich mit dem eigenartigen Geschenk.“

Er schien willens, das Buch nach dieser Erklärung wieder an seinen Platz zu bringen; doch Cilly legte in demselben Augenblick ihre Hand darauf und öffnete den Deckel.

Da stand auf dem ersten weißen Blatte in den festen Zügen einer Manneshandschrift in englischer Sprache:

„Dem todesmuthigen Lebensretter meines einzigen Kindes als ein winziges Zeichen meiner unauslöschlichen Dankbarkeit
 Norbert Stanhope.“

Darum also waren Sie ‚zufällig der letzte‘, welcher das brennende Gebäude verließ?“ fragte Cilly, und in dem Blick, welcher Wolfgangs Antlitz traf, war ein Leuchten freudigen Stolzes. „Sie wissen Ihre Großthaten sehr bescheiden zu umschreiben, Vetter Wolfgang.“

„Es war wirklich nicht so weit her mit dieser Großthat,“ erwiderte er treuherzig, während seine Wangen sich höher rötheten. „Aus einem sehr gesunden Schlafe erwachend, sah ich mich in jener Nacht von undurchdringlichen Rauchmassen umgeben und fühlte mich dem Erstickungstode so bedenklich nahe, daß ich ohne viel Zaudern und Ueberlegen nach dem nächsten rettenden Ausgang suchte. Aber es ist schon unter gewöhnlichen Verhältnissen nicht ganz leicht, sich in einem amerikanischen Riesenhotel zurechtzufinden, um wie viel weniger, wenn dies Hotel an allen vier Ecken bis zum Dach hinauf in Flammen steht. So gerieth ich denn sehr gegen meinen Willen statt in das Treppenhaus in ein Gemach, auf dessen Fußteppich ich eine anscheinend leblos hingestreckte weiße Gestalt erblickte. Hätte ich sie nun etwa da liegen lassen sollen? Ich denke, es giebt keinen Menschen in der ganzen Welt, der damals etwas anderes gethan hätte als ich, indem ich die leichte, weiße Gestalt in meine Arme nahm und sie gleichzeitig mit mir selber zu retten suchte. Sie sehen also, daß ich mich keineswegs wie die Helden in den Jugendschriften todesverachtend in Rauch und Flammen gestürzt habe, um ein Menschenleben dem Tode zu entreißen, sondern daß die Sache sich ganz einfach und natürlich zugetragen hat.“

„Und Herr Norbert Stanhope – ist es etwa jener sogenannte Bonanzakönig, von dem man öfters in den Zeitungen liest?“

„Allerdings, es ist derselbe.“

„Sie müssen sehr auserlesene Freundschaften gehabt haben jenseit des Oceans!“

„Mr. Stanhope wurde mein Freund erst infolge jenes nächtlichen Abenteuers; denn bis dahin hatte er wohl kaum etwas von meinem Dasein geahnt. Ich lag noch an meinen Brandwunden im Krankenhause danieder, als mir dies Album überreicht wurde. Es enthält fünfzig Blätter und auf jedem Blatte lag eine Tausenddollarnote; Mr. Stanhope hatte mich fürstlich belohnen wollen. Nun, ich machte ihm natürlich nach meiner Wiederherstellung einen Besuch, um mich für das Album zu bedanken und das Geld zurückzugeben. Und was mich sogleich zu dem viel verkannten Manne hinzog, war der feine Takt, mit welchem er es ohne weiteres annahm und sich wegen seines Mißgriffs entschuldigte. Auch er mochte Gefallen an mir finden, und so geschah es denn, daß ich bald ein täglicher Gast seines Hauses wurde und mir allgemach sogar das Recht erwarb, mich Mr. Norbert Stallhopes Freund zu nennen.“

Cilly hatte das Widmungsblatt umgeschlagen. Vor ihr lag die meisterlich ausgeführte Photographie einer jungen Dame von großer Schönheit.

„Ah,“ sagte sie mit einem Ausdruck lebhaftester Ueberraschung, „ist dies das Mädchen, dem Sie das Leben retteten?“

„Ja, liebe Cousine, Miß Viktoria Stanhope.“

„Und da der Vater Ihr Freund ist, werden Sie sie natürlich heirathen!“

Mit einer merkwürdigen, anscheinend durch nichts begründeten Heftigkeit hatte sie diese Worte hervorgestoßen. Wolfgang aber schüttelte mit einem gedankenvollen Blick auf das Bildniß der schönen Amerikanerin den Kopf.

„Nein, das werde ich nicht,“ sagte er, „wenn ich auch nicht leugnen will, daß ich mich eine Zeit lang recht ernstlich mit dieser Hoffnung getragen habe; denn Miß Viktoria ist ebenso gut und liebenswürdig, als sie anmuthig ist.“

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