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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

bescheiden aussehenden älteren Mann, der seiner ganzen Erscheinung nach wohl für einen Werkführer aus einer Fabrik oder für einen kleinen Handwerksmeister zu halten war. Vielleicht würde Wolfgang gar daran denken, auch diesen noch vor ihr abzufertigen! Aber es war unmöglich, daß sie das geschehen ließ!

Sie entnahm ihrem zierlichen Täschchen eine Karte und reichte sie dem Diener.

„Sagen Sie Herrn Brenckendorf, daß ich ihn nicht als Patientin, sondern in einer wichtigen und unaufschiebbaren Privatangelegenheit zu sprechen wünsche. Er wird dann gewiß eine Möglichkeit finden, mich sofort zu empfangen.“

Der Mann entfernte sich mit einer artigen Verbeugung, und wenige Minuten später trat Wolfgang wirklich auf die Schwelle.

„Guten Tag, verehrte Cousine!“ sagte er in französischer Sprache, nachdem er sich mit raschem Blick überzeugt hatte, daß sie nicht allein waren. „Sie wünschen mich auf der Stelle zu sprechen? Ist etwas so Ungewöhnliches geschehen?“

Jetzt, wo sie ihm Auge in Auge gegenüberstand, fühlte sich Cilly doch sehr verlegen. Sie fand es im Grunde sehr unartig, daß ihm die einfache Thatsache ihrer Anwesenheit nicht Veranlassung genug war, sich ihr ohne weiteres zur Verfügung zu stellen, aber sie suchte vergebens nach einer Erwiderung, welche geeignet war, ihn dies fühlen zu lassen.

„Etwas Ungewöhnliches? – Nein!“ brachte sie nur in sichtlicher Verwirrung hervor. „Aber ich glaubte dennoch – mein Besuch – der Zweck meines Kommens – es handelt sich natürlich nicht um mich, sondern um Marie – um Ihre Schwester, Wolfgang.“

„Um Marie? – Ist sie krank – oder droht ihr eine Gefahr?“

„Krank ist sie nicht, wie ich hoffe! Aber eine Gefahr droht ihr allerdings, eine große, schreckliche Gefahr! – Sie haben vielleicht keine Zeit, die Ankündigungen der Theater in den Tageblättern zu lesen –“

Ein kleines gutmüthiges Lächeln zeigte sich auf seinem Gesicht.

„Ist es das? Und darum sind Sie zu mir gekommen, liebe Cousine? – Nun wohl, solche Selbstverleugnung macht Ihrem Herzen wahrhaftig alle Ehre, und ich danke Ihnen aufrichtig dafür. Aber die eiserne Ordnung meiner Sprechstunden darf ich darum nicht durchbrechen. Werden Sie großmüthig genug sein, eine Viertelstunde auf mich zu warten?“

Wehe demjenigen, der Cilly noch vor einer Stunde prophezeit hätte, daß sie auf eine so unerhörte Zumuthung eingehen würde! Und wirklich war ihre erste Regung auch jetzt ein Verlangen, ihm ohne ein Wort der Erwiderung, nur mit einem niederschmetternden Blick, den Rücken zu kehren. Doch als sie das Gesicht zu ihm erhob, wollte ihr der niederschmetternde Blick durchaus nicht gelingen. Und zu ihrem eigenen Verdruß klang es kaum ein wenig schmollend, als sie nach kurzem Zaudern sagte:

„Können Sie mir denn nicht wenigstens den Mann da drüben opfern? Er sieht gar nicht aus, als ob er Ihnen Schätze einbringen würde.“

Obwohl der, von dem sie sprach, die Laute der fremden Sprache sicherlich nicht verstand, neigte sich Wolfgang doch näher an Cillys Ohr, während er ihr flüsternd antwortete:

„Gerade deshalb darf ich mich keiner Rücksichtslosigkeit gegen ihn schuldig machen, denn er würde eine Vernachlässigung naturgemäß viel schmerzlicher empfinden als die anderen. Aber ich habe auch noch andere Gründe, liebe Cousine, denen Sie Ihre Beistimmung gewiß nicht versagen werden. Dieser arme Mann kommt, um mich wegen seines leidenden Kindes zu befragen, seine Wohnung ist eine gute halbe Meile von der meinigen entfernt, und er muß die ganze Mittagspause, die ihm in der Fabrik gewährt wird, seinem Kinde zum Opfer bringen. Wollen Sie da noch immer, daß ich ihn ohne Noth Viertelstunden lang hier im Vorzimmer warten lasse?“

„Nein!“ sagte Cilly mit Bestimmtheit. „Kümmern Sie sich nicht weiter um mich und vergeben Sie mir, daß ich so kindisch ungeduldig war, Sie abrufen zu lassen.“

Wolfgang antwortete ihr nur mit einem freundlichen Blick und kehrte in sein Operationszimmer zurück, dem Arbeiter im Vorübergehen ein paar warm klingende Worte zurufend. Cilly hatte sich auf einen Stuhl ganz in der Nähe ihres schlichten Gesellschafters niedergelassen. Der Mann mit dem ehrlichen, viel durchfurchten Gesicht und den derben, schwieligen Händen war ihr plötzlich ein Gegenstand ganz besonderer Theilnahme geworden, und nachdem sie ihn eine kleine Weile schweigend betrachtet hatte, überwand sie ihre mädchenhafte Befangenheit sogar so weit, ein Gespräch mit ihm zu beginnen.

„Sie haben ein krankes Kind?“ fragte sie, „das sich in Herrn von – in Herrn Brenckendorfs Behandlung befindet?“

Ohne besondere Ueberraschung blickte der Angeredete auf und ergriff mit Lebhaftigkeit die Gelegenheit, seinem Herzen Luft zu machen.

„Ja, so ist es!“ erklärte er, „und mein August läge längst auf dem Kirchhof, wenn der ihm nicht geholfen hätte.“

In einiger Verwunderung schüttelte Cilly den Kopf. Ihr Vetter war doch nur ein Zahnarzt, und sie hatte noch nie gehört, daß ein solcher durch seine Kunst Menschenleben gerettet hätte. Mit theilnehmender Freundlichkeit erkundigte sie sich nach dem Leiden des kleinen August, und nun vernahm sie in breitester Ausführlichkeit, daß das Kind durch ein schweres Knochenleiden im Unterkiefer am Essen gehindert und dem Hungertode nahe gewesen sei, als Brenckendorf es allen hoffnungslosen Prophezeiungen berühmter Aerzte zum Trotz durch einen sinnreichen Apparat seiner eigenen Erfindung gerettet habe.

„Ach, Fräulein, das ist ein Mann!“ sagte er, und die Thränen der Dankbarkeit schimmerten hell in seinen Augen. „Fürsten und Prinzen müssen zu ihm kommen; bei uns armen Leuten aber, draußen in der Sandstraße, ist er wohl zwanzig Mal gewesen, und er hat es niemals eilig gehabt wie die anderen Aerzte, die am liebsten die Thürklinke gleich in der Hand behalten. Ach, und wenn er so dasaß und sich mit unserem August zu schaffen machte, immer liebevoll, immer geduldig, wie ungebärdig und starrköpfig sich der auch in seinen Schmerzen anstellen mochte, dann hat er uns oft im Stillen beschämt, mich und meine Alte, die wir als des Jungen leibliche Eltern viel weniger sanft und geduldig mit ihm gewesen waren. Und wie sein Gesicht glänzte, als August zum ersten Mal wieder ’was Festes essen konnte – ich sage Ihnen, Fräulein, die Hände hätten wir ihm küssen mögen! Ja, das ist ein Mann!“

Dem Töchterchen des Generals klopfte das Herz noch ungestümer als vorhin auf der Stiege. Sie fühlte sich glücklich und beschämt, als hätten die Lobpreisungen dieses einfachen Mannes ihr selber gegolten. Ja, wenn ein Zahnarzt solche Wunder verrichten konnte, dann hatte sie am Ende doch eine unzutreffende Vorstellung von seinem Beruf gehabt, und es kam ihr mit einem Male gar nicht mehr lächerlich vor, zu denken, daß ein Brenckendorf den Leuten falsche Gebisse machte.

Der Arbeiter wurde durch den Diener in das Sprechzimmer gerufen, und eine geraume Weile verging, ehe er dasselbe wieder verließ. Dann führte Wolfgang selbst seine junge Verwandte in das Gemach, das sie von ihrem ersten unfreiwilligen Besuche her noch so gut kannte. Er wollte sich noch einmal entschuldigen, aber durch eine bittende Gebärde brachte sie ihn schon nach den ersten Worten zum Schweigen.

„Nichts mehr davon, Vetter Wolfgang, wenn Sie mich nicht aufs neue in Verlegenheit bringen wollen. Es wäre ja geradezu unverzeihlich gewesen, wenn Sie vorhin meinem thörichten Verlangen nachgegeben hätten.“

Ritterlich artig, doch ohne jede unpassende Vertraulichkeit lud er sie zum Niedersitzen ein, und der feine Takt, mit welchem er sich gegen sie benahm, machte ihr das Vorbringen ihres Anliegens viel leichter, als sie selbst es vorher zu hoffen gewagt hatte.

Mit ernster Miene hörte er ihr zu, als sie ihm wiederholte, was vorhin schon Lothar aus ihrem Munde vernommen hatte. Sie wollte Marie sprechen um jeden Preis, sowohl um sich das Herz der Freundin zurückzugewinnen, als auch, um sie noch in der letzten Stunde ihrem Vorhaben eines öffentlichen Auftretens abwendig zu machen.

„Und warum sollte sie nicht öffentlich auftreten?“ fragte Wolfgang, da Cilly geendet hatte. „Nur durch eine solche Feuerprobe kann sie darüber belehrt werden, ob sie wirklich Talent zur Schauspielerin besitzt oder nicht.“

„Sie würden also am Ende gar nichts Außerordentliches darin finden, wenn Marie eine berufsmäßige Schauspielerin würde?“

„Ganz und gar nicht – sofern sie nur die genügende Begabung dazu besitzt. Ja, ich muß bekennen, daß ihr Entschluß mich mit der lebhaftesten Freude erfüllt hat.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 534. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_534.jpg&oldid=- (Version vom 28.1.2024)