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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

werden. – Lebe wohl, Marie, – da es nun einmal zwischen uns nicht mehr heißen kann: Auf Wiedersehen!“

Sie streckte die Arme aus, um ihn zu halten.

„Lothar!“ rief sie mit bebender Stimme, als er den ersten Treppenabsatz hinabgestiegen war. Aber der Assessor hatte sie nicht mehr gehört, oder er wollte sie nicht mehr hören. Sein Schritt verhallte unten auf dem Hausflur. Marie aber lehnte das blonde Haupt an den Thürpfosten und starrte dumpf und thränenlos auf ihre gefalteten Hände nieder, unbekümmert darum, daß irgend ein neugieriger Hausbewohner nur den Kopf herauszustecken brauchte, um sie so zu erblicken.


In dem getäfelten Speisezimmer der Villa des Generals von Brenckendorf standen sich am Vormittag des folgenden Tages die beiden Brüder gegenüber. Vor zehn Minuten erst war Lothar gekommen und er hatte eine geraume Weile warten müssen, bis Engelbert sich ihm zu der gewünschten Unterredung unter vier Augen zur Verfügung stellen konnte. Doch obwohl sie nur wenig Worte gewechselt hatten, schien sich bereits eine recht unbehagliche Stimmung über ihr Gespräch gelegt zu haben. Engelbert, der schon in vollständigem Dienstanzuge war, lehnte ziemlich nachlässig an dem großen Speisetisch, die Hände über dem Gefäß seines Säbels zusammengelegt und mit gerunzelter Stirn auf die Fußspitzen seiner Reiterstiefel herabblickend. Lothar stand ruhig und aufrecht vor ihm; er trug die verbundene linke Hand in einer schwarzseidenen Schlinge und unter seinen Augen lagen Schatten wie bei jemand, der einen empfindlichen Fieberanfall noch nicht ganz überstanden hat.

„Du mußt mir schon gestatten, die ganze Angelegenheit etwas sonderbar, um nicht zu sagen: lächerlich, zu finden,“ meinte Engelbert, der ein wenig mit der Erwiderung auf die letzten Worte Lothars gezögert hatte. „Von wem, wenn man fragen darf, hast Du denn den Auftrag erhalten, mich so in aller Form zur Rede zu stellen?“

„Ich nehme mir das Recht dazu als Dein älterer Bruder und als Zeuge der Beleidigung, welche Du einer Dame angethan hast.“

„Nun gut, ich will diese Berechtigung nicht weiter prüfen, denn es liegt mir gar nichts daran, eine dramatische Scene herbeizuführen. Aber Du verwechselst die Thatsachen, mein Lieber! Wenn von einer Beleidigung die Rede sein kann, so war nur ich es, der sie erfuhr. Dein Schützling hat mich auf dem Wohlthätigkeitsbazar in Gegenwart zahlreicher Personen auf eine unter wohlerzogenen Leuten geradezu unerhörte Weise beschimpft.“

„So war ihre Kritik Deiner Handlungsweise eine unberechtigte? So hatte sie keinen Grund, Deine Verlobung mit der Gräfin Hainried als eine von Dir begangene Ehrlosigkeit zu behandeln?“

„Nein, wahrhaftig, dazu hatte sie keinen Grund!“ fuhr der Offizier auf, einen keineswegs freundlichen Blick auf den unbequemen Frager werfend, „und ich möchte niemand rathen, es ihr nachzuthun. Bin ich denn dafür verantwortlich zu machen, daß sie sich in romanhafter Ueberspanntheit irgend welche unmöglichen Dinge in den Kopf gesetzt hat? Mußte ich sie etwa nothwendig heirathen, weil ich mir einige kleine verwandtschaftliche Vertraulichkeiten gegen sie herausgenommen hatte?“

„Ich weiß nicht, was Du darunter verstehst, Engelbert, aber ich fürchte, Du ziehst zu Deiner Bequemlichkeit die Grenzen weiter, als es einem Manne von Ehre gestattet ist. Marie hatte sich unter den Schutz dieses Hauses gestellt und sie durfte darum von den Mitgliedern desselben die allerzarteste Rücksichtnahme fordern.“

„Ach, bleibe mir doch gefälligst mit solchen moralischen Gemeinplätzen vom Leibe! Es ist wirklich komisch, wenn ein Stubenhocker, der die Frauen kaum aus der Entfernung kennt, sich anmaßt, Anweisungen über den Verkehr mit dem schönen Geschlecht zu ertheilen. Als wenn unseren jungen Damen an der zarten Rücksichtnahme etwas gelegen wäre! Sei versichert, daß ihnen ein flotter Bursche, der sich gelegentlich im Vorbeigehen einen Kuß stiehlt, ohne dabei gleich an Altar und Standesamt zu denken, tausendmal lieber ist als ein langweiliger Geselle, der vor lauter Rücksicht und Verehrung gar nicht bemerkt, daß sie junge Mädchen sind. Ich bin kein Fähnrich mehr, daß ich darüber von Dir Belehrungen annehmen möchte.“

„Das sind Anschauungen, die Du ohne Zweifel in Deinem Verkehr mit Damen vom Theater und vom Cirkus gewonnen hast und die dort auch ihre Berechtigung haben mögen. Dachtest Du, Marie von Brenckendorf mit demselben Maße zu messen?“

„Bah! Im Grunde ist eine wie die andere, und Du hast ja jetzt den Beweis dafür, daß der Unterschied wirklich kein so bedeutender war. Die Diskretion verbietet mir natürlich, Einzelheiten zu erzählen; aber Du darfst mir glauben, daß ich bei meinen kleinen Freundinnen aus der Manege nicht bereitwilligeres Entgegenkommen gefunden habe als hier.“

Lothar that einen Schritt auf ihn zu; in seinem Gesicht zuckte es, und seine Stimme hatte eine tiefere Färbung angenommen, als er sagte:

„Das lügst Du! Und Dein Verhalten verdient in Wahrheit keine andere Bezeichnnng, als Marie sie ihm gegeben hat.“

Engelbert fuhr aus seiner nachlässigen Stellung auf; sein Gesicht hatte sich bis über die Stirn hinauf geröthet, und er stieß mit seinem Säbel auf den Boden, daß die Gläser im Schrank erklirrten.

„Kein Wort mehr!“ rief er mit dröhnender Stimme. „Ich kann mir Deine Verrücktheiten lange gefallen lassen, weil Du nun einmal mein Bruder bist. Aber jedes Ding hat seine Grenze, und ich rathe Dir, meine Geduld und meine gute Laune nicht gar zu sehr in Anspruch zu nehmen!“

„Was geht hier vor? – Ein Streit? – Und obendrein in solchem Ton? Wollt Ihr die Dienerschaft zu Zeugen Eurer Zwistigkeiten machen?“

Mit diesen Worten hatte der General die Thür des Nebenzimmers geöffnet. Aber obwohl ihm nur Engelberts Heftigkeit den unmittelbaren Anlaß zum Einschreiten gegeben haben konnte, schienen sich doch seine vorwurfsvollen Fragen viel weniger an diesen als an Lothar zu richten. Und Lothar war es denn auch, der ihm Antwort gab.

„Ich fürchte, Vater, daß der Dienerschaft hier im Hause bereits Gelegenheit zu viel unerfreulicheren Beobachtungen gegeben worden ist.“

„Was heißt das? Willst Du nicht die Güte haben, Dich etwas deutlicher auszudrücken? Hast Du uns etwa nur darum das lang entbehrte Vergnügen Deines Besuches gemacht, um mit Deinem Bruder Händel zu suchen?“

„Es hat wirklich sehr stark den Anschein, Papa,“ mischte sich jetzt Engelbert ein. „Ich möchte um alles in der Welt wissen, wie Lothar dazu kommt, sich zum Ritter einer Dame aufzuwerfen, die früher blutwenig Vorliebe für ihn an den Tag gelegt hat, und die außerdem in dem Zahnreißer einen viel berufeneren Beschützer hätte als in ihm.“

„Das ist allerdings auch mir einigermaßen räthselhaft; aber ich wünsche nicht, in Erörterungen solcher Art hineingezogen zu werden. Die Person, von welcher da die Rede zu sein scheint, ist für mich nicht mehr vorhanden, und ich bitte mir aus, daß in meiner Gegenwart nicht weiter von ihr gesprochen wird.“

„Danach bliebe mir nur übrig, mich ohne weiteres zu entfernen. Lediglich um von ihr zu sprechen, kam ich hierher, und die kindliche Ehrfurcht macht es mir unmöglich, Vater, Dir auf Dein letztes Verbot so zu antworten, wie ich es unter anderen Umständen für meine Pflicht halten müßte.“

„Ich erhebe keinen Anspruch auf eine Ehrfurcht, die sich so sonderbar verklausulirt. Was hast Du an meinem Verhalten auszusetzen? – Nun?“

Der General war in größerer Erregung, als er sie sonst zu zeigen pflegte, selbst wenn er heftig gereizt worden war. Lothar aber sagte mit Nachdruck, indem er ihm fest und gerade in die Augen sah:

„Es erscheint mir als eine recht bequeme, aber sehr wenig ritterliche Art, Dich der Verantwortlichkeit für gewisse Dinge zu entziehen! Du mußt mir die Offenheit dieser Erklärung verzeihen; nur auf Deinen ausdrücklichen Wunsch habe ich sie abgegeben.“

„Unerhört!“ stieß Engelbert zwischen den Zähnen hervor, indem er von neuem rasselnd mit seinem Säbel aufstampfte.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 504. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_504.jpg&oldid=- (Version vom 26.12.2022)