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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

„Vielen wird es vielleicht in der That verwerflich erscheinen, Wolfgang – und auch Du wirst es möglicherweise nicht billigen. Aber Du hast mir vorhin das Recht der Selbstbestimmung zugestanden, und es kann Dich nicht kränken, wenn ich nach meinen letzten Erfahrungen nicht zum zweiten Mal einen anderen über mein Schicksal verfügen lassen möchte.“

Die Zurückhaltung, welche seit seinem Bekenntniß trotz all ihrer Freundlichkeit in Mariens Benehmen lag, that Wolfgang sichtlich weh; aber auch er ließ nichts von Gereiztheit in seinen Worten durchklingen, als er der Schwester die Hand zum Abschied reichte.

„Man muß nicht von der Minute erzwingen wollen, was nur die Stunde gewähren kann,“ sagte er zwischen Ernst und Scherz. „Die Hauptsache ist doch, daß wir einander jetzt ganz verstehen und uns, wie ich denke, nicht so leicht wieder verlieren werden. Nur eines noch: wo habe ich Dich künftig zu suchen? Denn daß Du in das Haus des Generals nicht mehr zurückkehrst, ist doch wohl selbstverständlich!“

„Ich hoffe, für die nächsten Tage ein Unterkommen bei Fräulein Engelhardt zu finden, und ich gebe Dir natürlich Nachricht, sobald ich meine Wohnung verändern sollte.“

„Dann bin ich beruhigt! – Viel Glück denn auf Deinen Weg, mein liebes Schwesterchen!“

Er geleitete sie bis an die Ausgangsthür der Wohnung und kehrte dann in sein Arbeitszimmer zurück, um vom Fenster aus der Davoneilenden mit den Blicken zu folgen, so lange er ihre schlanke Gestalt im Menschengewühl der volkreichen Straße zu unterscheiden vermochte.

„Was sie nur vorhaben mag!“ sagte er mit einem Kopfschütteln vor sich hin. „Mit der Malerei wird sie es ja schwerlich noch einmal versuchen. Doch gleichviel, was sie auch immer beginnen mag, sie wird dem Namen Brenckendorf in meinem Sinne gewiß keine Schande bereiten!“




Noch kämpften draußen über dem Häusermeer der Riesenstadt die letzten nächtigen Schatten mit dem matten Licht des anbrechenden Wintertages, als ein halbwüchsiger, mürrisch und verschlafen aussehender Kellnerbursche an die Thür des Gasthofszimmers klopfte, welches man dem letzten, erst gegen Mitternacht angekommenen Fremden zugewiesen hatte. Es mochte in Kulickes „Hotel“ nicht Sitte sein, eine besondere Aufforderung zum Eintritt abzuwarten, denn noch ehe von drinnen ein Laut vernehmlich geworden war, schob sich der Junge über die Schwelle. Er trug ein Buch unter dem Arme, das genau so schmierig und abgegriffen aussah wie jeder andere Gegenstand in diesem gastlichen Hause, und mit einem verdrießlichen Gebrumme, das vielleicht einen Morgengruß darstellen sollte, warf er es klatschend auf den Tisch.

Der Fremde, welcher durch das Klopfen nicht aus seinem tiefen Schlummer geweckt worden war, fuhr erst bei diesem Geräusch in die Höhe. Seine dunkeln Augen, die fast geisterhaft aus dem hageren und im grau-gelben Morgenlichte wahrhaft leichenfahlen Antlitz leuchteten, stierten den schmutzigen Burschen sekundenlang wirr und verständnißlos an.

„Das Bild? – Ich habe das Bild nicht! – Wer sagt, daß ich es habe?“ kam es von seinen Lippen. Der beängstigende Traum, aus welchem er emporgeschreckt worden war, mochte noch die Herrschaft behaupten über seine Gedanken. Aber der Kellnerbursche fand nichts Auffälliges in dem sinnlosen Geschwätz eines Schlaftrunkenen.

„Hier ist von keinem Bild die Rede,“ brummte er. „Sie sollen sich bloß in das Fremdenbuch einschreiben! Es wurde gestern abend vergessen.“

„Ja – so –, in das Fremdenbuch!“ wiederholte Hudetz, nun endlich zur Besinnung kommend. Mit einem Ruck warf er das schwere, einen eigenthümlich modrigen Geruch ausströmende Deckbett von sich und griff nach seinen Kleidern.

„Wünschen Sie auch Kaffee?“ fragte der Junge, der ihm mit stumpfer Gleichgültigkeit zusah. „Und wollen Sie das Zimmer für die nächste Nacht behalten?“

„Nein, das eine so wenig als das andere! Ich befinde mich nur auf der Durchreise hier und ich muß mich beeilen, weiterzukommen.“

Er hatte seinen Anzug nothdürftig beendet und trat an den Tisch, auf welchen der Kellner das schmierige Fremdenbuch geworfen hatte.

„Man muß sich also wirklich einschreiben?“ fragte er. „Die Polizei kümmert sich täglich darum?“

„Und ob sie sich darum kümmert! Aber zum Kaffeetrinken haben Sie doch wohl noch Zeit genug! Mit welchem Zuge wollen Sie denn fahren?“

Hudetz hatte die Feder in den fast völlig eingetrockneten, schlammigen Inhalt des Tintenfasses getaucht und starrte nun auf die kleinen schwarzen Klümpchen, die an der rostigen Spitze hängen geblieben waren, als hätte er niemals etwas Merkwürdigeres gesehen.

„Wie sonderbar das doch ist!“ murmelte er, die letzten Fragen des Burschen ganz überhörend. „Man weckt die Leute um dieses Fremdenbuches willen aus dem Schlafe und begnügt sich doch mit dem ersten besten Namen, den sie hineinschreiben. Sehen Sie“ – und er that einige rasche, kreischende Federzüge – „da steht der meinige; aber wer leistet Ihnen Gewähr dafür, daß es der richtige ist?“

Der Bursche las, indem er ihm über die Schulter blickte:

„Julius Patek, Kaufmann aus Budapest.“

Dann zuckte er gleichmüthig mit den Achseln.

„Mir ist es natürlich ganz einerlei, ob Sie Patek oder Schulze heißen. Einer, auf den eine Belohnung ausgesetzt ist, werden Sie doch wohl nicht sein.“

Hudetz zog den Hals zwischen die Schultern und stocherte mit der Feder in dem verstaubten Tintenfasse herum.

„Und wenn ich nun doch so einer wäre?“ platzte er nach einem kleinen Schweigest heraus wie jemand, der vergebens gekämpft hat, ein Wort zu unterdrücken, das sich ihm immer und immer wieder auf die Zunge drängte. „Sie würden es bitter bereuen, mich nicht festgehalten zu haben, wenn Sie später etwas derartiges erführen, nicht wahr?“

„Ach, Dummheiten!“ brummte der Junge, indem er sein Buch wieder unter den Arm nahm. „Also keinen Kaffee?“

„Nein! Was habe ich für das Zimmer zu zahlen?“

„Fünfzehn Groschen, und wenn Sie kein Frühstück nehmen, zwei Mark! An den Gästen, die nichts verzehren, ist uns wenig gelegen.“

Hudetz zahlte; aber nachdem der Junge ohne Dank und Gruß das Zimmer verlassen hatte, stand er eine Weile mit gesenktem Kopfe und schlaff herabhängenden Armen da, wie wenn ihm Muth und Widerstandsfähigkeit plötzlich ganz abhandengekommen wären.

„Das war das zwölfte Hotel!“ murmelte er. „Wie lange noch werde ich täglich ein anderes finden – wie lange noch?“

Draußen auf den Treppen wurde es lebendig. Der Wirth rief scheltend nach dem Kellner, und eine keifende Weiberstimme fuhr in schrillen Fisteltönen dazwischen. Hudetz netzte Gesicht und Hände mit kaltem Wasser und machte sich reisefertig. Außer dem Handköfferchen führte er jetzt noch ein kleines, flaches, viereckiges Packet mit sich, das sehr sorgfältig in Packpapier eingeschlagen und mit Bindfaden umschnürt war. Eine Weile schien er in Versuchung, es zu öffnen, als aber der Lärm draußen immer lebhafter wurde und einmal sogar eine Hand, offenbar aus Versehen, nach der Thürklinke seines Zimmers griff, knüpfte er die schon gelöste Schleife wieder zusammen und nahm das Packet unter den Arm.

Feuchtkalt schlug ihm die rauhe Morgenluft entgegen, als er auf die Straße hinaustrat, und ließ ihn in seinem dünnen Ueberröckchen fröstelnd erschauern. Er hatte es sichtlich eilig, aus der Nähe des Hauses fortzukommen, in welchem er übernachtet hatte und erst in der breiten, zu schier unendlicher Länge ausgestreckten Frankfurter Straße, durch welche um diese Morgenstunde ganze Scharen von Arbeitern mit ihren unvermeidlichen Blechkännchen zogen, mäßigte er die Hast seiner Schritte.

Es kostete ihn jetzt durchaus keine Ueberwindung mehr, die ausgetretenen Stufen zu einem jener Keller hinabzusteigen, aus deren niedrigen, kaum über dem Pflaster sichtbaren Fenstern eine so verpestete Atmosphäre auf die Straße zu strömen pflegt. Und er hatte den Kaffee im Hotel nur verschmäht, weil er sich allgemach daran gewöhnt hatte, einen kräftigeren Morgentrunk zu sich zu nehmen. Eine Frau von schier ungeheuerlichen, schwammigen Körperformen, die hinter dem Schanktisch stand, füllte ihm das Glas mit dem verlangten Branntwein; aber sie hielt es am Fuße fest, bis ihr Hudetz die Bezahlung zugeschoben hatte.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 476. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_476.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)