Seite:Die Gartenlaube (1890) 470.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Er hatte es sich allerliebst gedacht, ganz unerwartet bei den Seinigen einzutreffen, aber wie die meisten Ueberraschungen, so schien auch diese unter einem unglücklichen Stern geboren. Zunächst wurde der Vater selbst überrascht, und zwar, indem er beim Betreten der Schwelle den Kopf mit großer Heftigkeit gegen die für so hochgewachsene Leute nicht berechnete Thür stieß, was den obigen Ausruf und eine schon etwas herabgeminderte Fröhlichkeit zur Folge hatte. Sodann fand er seine Lieben erstens nicht vollzählig und zweitens in Thränen schwimmend vor und empfing den stets sehr widerlichen Eindruck, daß er zu ungelegenster Stunde gekommen sei.

Die allerdings etwas unüberlegte Frage, welche die Mutter an den vor fünf Minuten mit dem Dampfer angekommenen Hausherrn richtete – wie sie sie im Augenblick an jeden gerichtet hätte! – „hast Du die Jungen nicht gesehen?“ hatte bei dem Doktor die männlich unwirsche Antwort zur Folge: „Sprich doch nicht solchen Unsinn, mein Kind! Woher soll ich denn die gesehen haben?“ wodurch sich der Augenblick des Wiedersehens recht unfreundlich anließ.

Der Vater sah sich nun aus seiner erwarteten Gestalt als hocherfreuende Ueberraschung und Hauptperson in die Nebenrolle eines Suchenden gedrängt und begann, mit einigem Knurren das Haus ebenfalls nach Paul und Karl zu durchstöbern.

Ein vorsichtig polterndes Geräusch aus der Stube im Erdgeschoß, welches bei der Frage des Doktors „wer wohnt denn da?“ sofort in verdächtiger Weise verstummte, veranlaßte den Frager zu einem sofortigen kräftigen Donner an die von innen verriegelte Thür mit dem den Jungen wohl bekannten Zuruf: „Wollt Ihr wohl sofort aufmachen?“

Daraufhin näherten sich äußerst zögernde Schritte, der Riegel wurde langsam zurückgeschoben, und den eindringenden Eltern bot sich der entsetzensvolle Anblick, wie Karl eben mit seinem Alpstock in dem kunstvollen Getriebe des telegraphischen Apparats bohrte, um ein von ihm ersichtlich angerichtetes Unheil auf diese wunderbare Art wieder gutzumachen.

Beim Anblick des Vaters schien erst die ganze Größe des begangenen Verbrechens im Bewußtsein der Brüder aufzudämmern, und sie brachen in ein zweistimmiges, wehklagendes Geheul aus. Karl flüchtete mit seinem Alpstock, der dem Vater im Augenblick ganz handgerecht erschien, in die äußerste Ecke des Gemaches, während Paul kurz entschlossen das Fenster aufriß, hinaussprang und durch ein klatschendes Geräusch den Ohren der Zurückbleibenden die angenehme Thatsache vermittelte, daß er im Sonntagsanzug auf die aufgeweichte Gartenerde gefallen sei. In einem dieser Voraussetzung entsprechenden Zustande wurde er denn auch, nachdem Karl bereits den gerechten Zorn seines natürlichen Vorgesetzten fühlbar geschmeckt hatte, im Garten aufgefunden, und zwar durch den Hausknecht des Gasthofs, in dem Sascha wohnte. Dieser Sendbote brachte einen Brief an Frau Langer und betraute Paul mit einem boshaften „na, freu Dich nur!“ mit der Abgabe desselben. Paul betrat denn nun zitternd, seine Rücken- und Seitenansicht vorsichtig verbergend, das Wohnzimmer. Die Mutter betrachtete ihn durchbohrend und richtete, ohne seinem stumm hingehaltenen Empfehlungsschreiben vorläufig irgend welche Beachtung zu schenken, die peinliche Aufforderung an ihn: „Dreh’ Dich doch einmal herum!“

Paul sah sich solchergestalt in der schmerzlichen Lage, seine beschädigte Toilette einer unnachsichtlichen Kritik auszusetzen, die denn auch in einer das Mutterherz wesentlich erleichternden Tracht Prügel kräftigen Ausdruck fand. Während nun in jeder Ecke des Zimmers ein Verbrecher schluchzte und der Vater beständig das schwierige Exempel im Kopf auszurechnen suchte, was die Wiederherstellung eines Telegraphenapparates etwa kosten könnte, öffnete die Mutter den Brief, den man über dem Strafvollzug fast vergessen hätte.

Das Schreiben rührte von Saschas Mutter her und enthielt den unwillkommenen und überraschenden Satz: „Ihr neunjähriger Sohn hat meine Tochter angeschossen! Ich werde die Polizei benachrichtigen!“ Der Vater sank wie ein geknicktes Rohr auf einen Stuhl.

„Ihr scheint ja hier recht artig geworden zu sein!“ bemerkte er mit schneidender Ironie.

In der folgenden peinlichen Pause warf Karl noch das letzte Fünkchen in die explosionsbereite Atmosphäre, indem er, als einzige Erwiderung und Entschuldigung auf die gegen ihn geschleuderte Anklage, es sehr übelnahm, daß er in dem Brief als „neunjährig“ bezeichnet war, und wüthend erklärte, er wäre zehn Jahr!

Daß nach diesem Brief und allem, was dazu gehörte und vorangegangen sein mußte, der Vater das segensreiche Geschäft des Durchprügelns wieder aufnahm und noch eine ganze Weile fortsetzte, wird jeder Freund der erziehungsbedürftigen Jugend nur verstehen und billigen.

Nach erfolgter Abstrafung wurden Karl und Paul erbarmungslos zu Bett gejagt; Elli und Anna aber, die sich tugendhaft mit auffälliger Vortrefflichkeit brüsteten und kleine Seitenbemerkungen über die unartigen Brüder machten, mußten vom Vater die niederschlagende Erkundigung vernehmen: „Ihr wollt wohl auch was haben?“ – ein Anerbieten, welches trotz seiner allgemein gehaltenen Form doch verständlich schien.

Zornig und verstimmt warf sich der Hausherr in die steinharte Sofaecke.

„Das fängt ja hübsch an!“ bemerkte er bitter. „Dazu bin ich zwei Tage früher vom Berner Oberland weggegangen! Sei jetzt wenigstens so gut, Auguste, und sorge für ein ordentliches Essen – ich bin seit heute morgen unterwegs und habe noch kein Mittagsbrot gehabt!“

Diese an sich ja durchaus berechtigte Forderung gab der armen Auguste einen Stich ins Herz! Man urtheile! Es war Sonntag nachmittags – noch dazu der Sonntag“ der Köchin, die, aufgeputzt wie ein Pfingst-röslein, unter dem Regenschirm und Schutz des Hausknechts vom „Goldenen Stern“ vor zwei Stunden abgewandert war – und der Fleischer hatte nicht „geschlachtet“, was dem betreffenden Kalbe gewiß sehr angenehm, für die augenblicklichen wirthschaftlichen Verhältnisse aber recht unvortheilhaft sich erwies.

Die Mutter sah sich demgemäß genöthigt, erröthend einzugestehen, daß sie kein Fleisch erlangen könne, und der ob dieser Enttäuschung fast weinende Vater mußte eine Stunde später sich an Eierkuchen, Pellkartoffeln und Butterbrot laben – eine Entbehrung, die ihn zu der beißenden Bemerkung veranlaßte, daß er sich „satt“ allerdings anders dächte.

Das Ergebniß aller dieser Erlebnisse zog der Doktor, indem er unnachsichtlich erklärte, er reise morgen wieder ab, und die Seinen hätten ihm in längstens drei Tagen zu folgen – ein Bescheid, den die Kinder, trotz aller ausgestandenen Langeweile, schluchzend, die Mutter aber mit innerlicher Erleichterung aufnahm.

Eine leise Hoffnung, daß der Vater sich – ein schon öfter dagewesener Vorgang! – seinen Aerger ausschlafen würde, trog diesmal!

Der Doktor, dem man bei seiner unerwarteten Ankunft die einzige lange Bettstelle des Hauses zurecht gemacht hatte, war auf eine Matratze von eigenthümlichem Bau gerathen, die, an beiden Seiten abfallend, sich in der Mitte zu einem festen, runden Hügel aufbeulte, so daß der ermüdete Hausvater durchschnittlich alle zehn Minuten nach rechts oder links herunterrollte – ein Zustand, dem selbst der ihn naturgemäß begleitende Traum von einer Rigibesteigung keinen besonderen Reiz zu verleihen vermochte.

Wie gerädert stand der Doktor am nächsten Morgen auf. Ein Hausherr, der nicht geschlafen hat, ist immer etwas Unangenehmes und wird von den Seinen nach dem alt bewährten Grundsatz behandelt: „Und im Kreise scheu umgeht er den Leu“. Nach allem Vorhergegangenen aber war der Vater heute ein geradezu furchtbares Naturschauspiel, und es hätte der ortsbehördlichen Beschwerde wegen des zerstörten Telegraphenapparates, dessen Herstellung die Reisekasse gänzlich erschöpfte, nicht bedurft, um tobenden Zorn zu entfesseln. Da der Doktor in dieser nicht ungerechtfertigten Empfindung nun aufgeregt und scheltend durch alle Zimmer jagte, dabei aber immer wieder die niedrige Thür vergaß und sich noch dreimal furchtbar an den Kopf stieß, sich demgemäß noch immer mehr in Wuth steigerte, so war es schließlich bei aller dem Familienoberhaupt gezollten und gebührenden Liebe und Hochachtung ein erleichterndes Gefühl für seine Frau, als der keuchende Dampfer ihn davon trug. Der Trennungsschmerz wurde ja durch die Gewißheit gemildert, daß man in einigen Tagen wieder beieinander sein werde.

Und so wurde es!

Mit kaum verhehlter Freude ob des unerwarteten Abschlusses der Sommerfrische packte die Mutter den Frachtkorb zum zweiten

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 470. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_470.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2023)