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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)


und das „Ade, du mein lieb Heimathland“ ging denn auch glänzend und glatt vorüber.

Einige erheiternde Zwischenfälle fehlten dem großen Tage nicht. Daß dem Wilhelm Tell beim Verkünden seines Vorhabens

„Mach deine Rechnung mit dem Himmel, Vogt,
Fort mußt du, deine Uhr ist abgelaufen!“

die Stimme vom dräuenden Baß zu quietschender Kindlichkeit umschlug, nahm der Sache viel von ihrem unheimlichen Charakter. Der „Die Kraniche des Ibykus“ Vortragende machte sich des kleinen Versehens schuldig, in tiefbewegtem Ton zu verkünden:

„Er sieht, schon kann er nicht mehr sehn,
Die nahen Stimmen furchtbar krähn!“

eine Leistung, die bei der Schwierigkeit der Ausführung ein verwundertes Gefühl in der Brust der Hörer weckte.

Jetzt traten zwei Obertertianer auf, von denen der eine sich durch einen kugelrunden, schwarzen Krauskopf auszeichnete und zu allgemeiner stürmischer Heiterkeit von seinem Gefährten angeredet wurde: „O König, schöner König mit Deinem goldnen Haar“ – eine Mißachtung der Thatsachen, die allerdings dem tragischen Inhalt des Gedichts vom armen König Enzio einen drolligen Beigeschmack verlieh, der den Verfasser gewiß recht schmerzlich berührt hätte.

Noch stärkere Zumuthungen an die Einbildungskraft der Hörer wurden aber gestellt, als zwei muntere Sekundaner sich als Elisabeth und Maria Stuart in den bekannten lebhaften Zank einzulassen hatten. Und als der eine in seinem Fräckchen in die Kniee sank und von dem andern beschuldigt wurde, daß er durch seine Schönheit und Gefallsucht in der Männerwelt doch unverantwortlich viel Schaden angerichtet habe, – da brach minutenlang ein so tosender Jubel los, wie er kaum je eine Maria Stuart lebhafter gefeiert haben dürfte, wenn ihr auch vielleicht eine weniger heitere Färbung des Beifalls angenehmer gewesen wäre!

Wie alle Freuden der Erde, so nahm auch diese ein Ende! Der Oberlehrer, ein zweiter Paris, der statt der Aepfel die Zeugnisse in Händen hielt, hatte das Urtheil über die Häupter seiner Untergebenen gerufen – Karl und Paul waren versetzt!

Diese Thatsache ist für Eltern und Kinder ja stets beglückend, obwohl sie, bei Licht besehen, zunächst die gänzlich unbeschäftigten, tobenden Ferien ohne Aufgaben und sodann die massenhafte Anschaffung neuer Schulbücher nach sich zieht. Während nämlich Schiller, Goethe, Homer, Shakespeare und andere gewöhnliche Sterbliche die angenehme Eigenschaft besitzen, daß ihre Werke jahraus, jahrein dem Wechsel der Moden Trotz bieten, haben der unsterbliche Plötz, der gesegnete Ostermann und der brave Daniel die berechtigte Eigenthümlichkeit, mit rasender Schnelle zu „veralten“ und bei jeder Klasse einer neuen Ausgabe zu bedürfen, so daß in Elternherzen der schmerzliche Seufzer aufsteigt, ob nicht ihr Inhalt von etwas dauerhafterem Stoff gemacht werden könnte. Selbst Lesebücher „veralten“ von Jahr zu Jahr und können nicht von vorgerückten Geschwistern geerbt werden, obwohl nach vielfacher Erfahrung die Schüler und Schülerinnen nach der Auffassung des beschränkten Elternverstandes gerade so gut nach einer Ausgabe von 1875 lesen lernen könnten, als nach der „neuesten“ und „allerneuesten“.

Doch das ist nun nicht zu ändern, und wie andere Leute, so finden sich auch Langers mit Würde in das Unvermeidliche und freuen sich der Thatsache, nun wieder auf ein Jahr der bangen Frage „sitzen bleiben oder nicht?“ überhoben zu sein, einer Frage, welche Söhne nur durch ihre Kindheit zu begleiten – bei Töchtern dagegen erst nach der Einsegnung entscheidende Wichtigkeit zu erlangen pflegt.

Da diese ernste Angelegenheit nun abgethan war, so konnte sich die Mutter mit ganzer Seele dem Packen des Frachtkorbes zuwenden, eine Beschäftigung, in der sie nur durch das kleinste Kind des Hauses unterbrochen wurde, welches alles, was zu Reisezwecken dienen sollte, als eßbar aufzufassen geneigt war und von der Hausfrau durch beständige eintönige Zurufe. „Nicht in den Mund!“ an diesem unheilvollen Beginnen gehindert wurde.

Die größeren Kinder brachten voll Eifer allerhand geschleppt, was sie für die Reise unbedingt zu brauchen betheuerten.

Die beiden Puppen wurden, ohne Rücksicht auf ihre Gliedmaßen, auch glücklich mit eingestopft, ebenso eine Schachtel Bleisoldaten. Als aber Paul mit einem Schild von etwa zwei Metern Länge und entsprechender Breite antrat und ohne diesen nicht vier Wochen leben zu können behauptete, schien es doch an der Zeit, den übermäßigen Ansprüchen Einhalt zu thun; der Indianerschild blieb zurück und ebenso die Steinsammlung, da die letztere der Leichtigkeit des Frachtgepäcks nicht eben förderlich erschien.

Nachdem der umfangreiche Korb als solider Zugvogel den Weg in die wärmere Zone der Schweiz vorangeflogen war, nahte für die Familie selbst der Reisetag. Der Vater, dessen kurz bemessene Urlaubszeit bedächtiges Eintheilen derselben benöthigte, machte sich bereits vorher von der Familie los, da er es sich mit Recht nicht allzu niedlich dachte, mit fünf Kindern unter zwölf Jahren zu reisen.

Als unsere Hausmutter am Morgen mit ihrer etwas verdrießlichen Küchenfee und allen Kindern reisefertig dastand, überzählte sie mit Feldherrnblick das Handgepäck. Da nämlich die genommenen Rundreisebillette kein Freigepäck gestatteten, so mußte alles, was eine große Familie auf der Reise und in den ersten Tagen am neuen Aufenthaltsort etwa gebraucht, „auf Händen“ getragen werden, ein Verfahren, welches nur der zu schätzen weiß, der es „schaudernd selbst erlebt“. Die Gepäckstücke erreichten die erfreuliche Zahl elf ohne das Tragkind, welches als einjähriges Menschenwesen doch vollberechtigt war, ebenfalls als Handgepäck zu gelten.

Die elf Gegenstände, beginnend bei der Rolle mit Regenschirmen und endend bei dem Korbe mit gewärmten Milchflaschen, wurden nun zu übersichtlicher Vertheilung gruppirt; da aber beständig einer noch etwas hinzubrachte oder wegnahm, so gestaltete sich dieses Bild etwa wie die Figuren in einem Kaleidoskop. Besonders ein kleiner, grauer Koffer zeichnete sich durch beständiges, tückisches Verschwinden aus, so daß der Ruf: „Wo ist der graue Koffer?“ mit solcher Regelmäßigkeit erklang wie der Schlag einer Kuckucksuhr.

Jetzt wurden nach dem Spruch: „Ein jeder Stand hat seine Last“ den einzelnen Mitgliedern der Familie ein oder mehrere Stücke zugetheilt. Die Jungen, die es erniedrigend für ihre gesellschaftliche Stellung fanden, überhaupt etwas zu tragen, erlagen im ersten Augenblick schon unter dem Gewicht jedes, auch des kleinsten Päckchens, das ihnen zugemuthet wurde, und mußten erst durch die höfliche Anfrage: „Ihr habt wohl schon lange keine Prügel mehr gekriegt?“ auf den Weg der Mannszucht zurückgeführt werden.

In zwei Droschken wurde nun die Familie mit allen Sachen hoch aufgethürmt; allein die Ueberfüllung der Gefährte hatte die betrübende Wirkung, daß unterwegs mehrere Stücke Gepäck, darunter natürlich der boshafte graue Koffer, herausfielen, so daß man halten und unter dem Angstgeschrei der Kinder: „Wir kommen zu spät!“ das Entrollte wieder holen mußte.

Man kam erstaunlicherweise doch noch rechtzeitig an und fand, dank einem Fünfzigpfennigstück, welches in die Hand eines vollständig ahnungslos dabei dreinschauenden Schaffners wanderte, ein Coupé für sich allein, in dem man nun, wie sich mit Leichtigkeit berechnen ließ, etwa anderthalb Stunden lang reisen würde.

Die schon vor der Abfahrt fast zu Tode erschöpfte Mutter befand sich aber noch immer in qualvoller Verfassung, da das Dienstmädchen einen Theil des Handgepäcks mit in der andern Wagenklasse hatte und beständige Zweifel die Seele der Hausfrau zerwühlten, ob die verhängnißvolle Zahl elf auch stimmte. Infolgedessen wurde auf jeder Station mit Wagenwechsel der Zettel mit dem Verzeichniß der Sachen wie das Aufgebot in der Kirche abgelesen, ein Verfahren, welches die Reise zu einer beständigen Hetzjagd gestaltete, da zum Zugwechsel gewöhnlich nur zehn Minuten Zeit war.

Die Kinder waren zuerst noch artig genug! Sie hatten ein segensreiches Spiel alter Karten mit und spielten auf Pauls Tornister „Tod und Leben“, während das Kleine ein Biskuit unparteiisch in seinen Mund, über sein Gesicht und seine Kleider vertheilte und in dieser Beschäftigung vollstes Genügen zu finden schien.

Nach dem dritten Male Umsteigen aber, und nachdem der Korb mit den Eßwaren infolge der an ihn gestellten ungeheuren Anforderungen fast geleert war, begann die Reiseungezogenheit in ihrer furchtbarsten Gestalt Platz zu greifen. Man war zum Ueberfluß noch mit einigen schwer zu beklagenden Mitreisenden in ein Coupé gekommen, deren einer, augenscheinlich ein Handlungsdiener mit einer lawn-tennis-Mütze, der gern für einen Lord gehalten sein wollte, beim Erblicken der Kinderschar und des eben heftig schreienden Nesthäkchens fast in Weinkrämpfe verfiel und der

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