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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

ABC-Täfelchen, die Väter sehen zu und haben die charaktervollen Porträtköpfe der Stifter. In gewisser Hinsicht noch bedeutsamer ist das Abendmahl in der Altarstaffel, das so merkwürdig an Lionardos bekanntes Bild anklingt und zeigt, daß Schaffner Italien gesehen hat, wie denn Thorwaldsen bei Anblick desselben ausrief: „Der muß ja Lionardos Abendmahl gesehen haben!“

Tausende unserer Leser werden, bis diese Blätter in ihre Hand kommen, gelegentlich des bevorstehenden Festes vom 28. Juni bis 1. Juli d. J. mit dem Strom der Gäste die Hallen des Münsters durchwandelt und die genannten wie noch viele andere Kunstschätze desselben, besonders auch noch in der Sakristei, betrachtet haben. Die Klänge des Mendelssohnschen „Elias“, von einem Chor von dreihundert Sängern und entsprechendem Orchester im Münster ausgeführt, werden majestätisch widerhallen; das Festspiel, von Ulmer Bürgern dargestellt, wird die Hauptepochen der Geschichte der Stadt und des Münsterbaues am Auge vorüberführen, und der große historische Festzug von 1500 Theilnehmern wird den Glanz der alten Reichsstadt neu aufleben lassen. Aber die wenigen, welchen es vergönnt war, an der feierlichen Versetzung des Schlußsteins des Thurmes auf der schwindelnden Höhe des Gerüsts theilzunehmen, werden die Ueberzeugung lebenslang in sich tragen, daß die erhabene Weihe dieses Augenblicks alles, was Festesglanz zu bieten vermag, weit hinter sich läßt.

Prof. August Beyer,
Münsterbaumeister.

Eine stille andächtige Gemeinde, versammelten wir uns am Abend des 31. Mai um den Meister und die Werkleute auf der schwindelnden Höhe der obersten Plattform des Gerüstes, aus welcher eben noch die äußerste Spitze des vollendeten Thurmes heraustrat, um nun bald frei in die Lüfte zu ragen. Lichter Abendsonnenschein übergoldete das weite Land und die Häuser der Stadt tief unten, aus deren Giebelfenstern wehende Tücher zu uns heraufgrüßten, indeß vom Thurme die deutsche und die württembergische Fahne herabwallten. Auf dieser Höhe, wußten wir, wird keiner mehr stehen, kein Auge den sonnenbeglänzten, sturmumtobten, majestätischen Gipfel je wieder aus dieser Nähe grüßen! Wir waren alle durchdrungen von der Größe des Augenblicks, durch welchen in die Geschichte Ulms, des evangelischen Gotteshauses und der deutschen Kunst ein neues unvergängliches Blatt eingefügt werden sollte.

Da klangen die Glocken des Domes herauf zu uns. Die am Morgen von den Geistlichen und den bürgerlichen Kollegien der Stadt unterzeichnete Urkunde von Pergament, welche besagt, daß

„im Jahre des Heils 1890 ... am 31. Mai abends 6 Uhr der Schlußstein zum Hauptthurm dieses Münsters aufgesetzt und damit 513 Jahre nach der Grundsteinlegung dies größte Gotteshaus in deutschen Landen glücklich vollendet worden“ –

wird in die Höhlung des vorletzten Steins, welcher dem Thurmknopf zur Unterlage dient, eingelegt und vermauert – und langsam senkt sich dieser herab auf denselben. Ein frommer Segensspruch zuerst; dann klingt unser dreifacher Jubelruf hinaus in die Lüfte, dem Könige als dem hohen Förderer und Protektor, dem Baumeister mit seinen Gehilfen als dem ruhmreichen Vollender des großen Werkes! Und in feierlichen Accorden des Chorals „Nun danket alle Gott“ scholl es vom Thurmkranz unter uns nieder, der harrenden Menge zur frohen Kunde, was droben geschehen!




Schulschluß und Ferien.

Skizze aus dem Familienleben von Hans Arnold.

Die „großen Ferien“ nahten auf den schweren Flügeln dumpfer Sommerhitze, die erfahrungsmäßig nie hartnäckiger, schattenloser und anhaltender ist als in den letzten drei Wochen vor Schulschluß, um sich ebenso erfahrungsmäßig mit dem ersten Ferientage in kalte, regnerische und unfreundliche Witterung zu verwandeln – gleichsam, als hätte die Mutter Natur mit der weisen und mächtigen Schulbehörde den Grundsatz gemeinsam in Pacht, daß man den Kindern das Leben so sauer zu machen habe, als es irgend angehen will!

In zahlreichen Familien, welche große Städte bewohnen, macht sich um diese Zeit eine innere Gährung bemerklich! Väter suchen nach brauchbaren Vorwänden, um die Ihrigen auf eine möglichst erträgliche Insel zu bannen und mit dem beruhigten Bewußtsein, daß sie vier Wochen lang nicht davon weg können, selbst frank und frei die Welt nach allen Himmelsrichtungen zu durchstreifen.

Mütter beginnen, die Sommer- und Herbstgewänder ihrer Nachkommenschaft mit mißtrauischen Blicken auf Schönheit und Dauerhaftigkeit zu prüfen, und werden in diesen kritischen Lebensabschnitten meist nur mit einem über die Hand gezogenen Strumpf gesehen, den sie auf die wichtige Frage hin: „stopfen oder anstricken?“ zweifelhaft betrachten.

Die Kinder wagen sich vor der gelösten Censur- und Versetzungsfrage – im westlichen Deutschland mit den großen Ferien zusammenfallend – noch nicht zu freuen, da ihnen bei jedem Nachlassen in ihrer armen, kleinen Sisyphusarbeit die furchtbare Drohung entgegengeschleudert wird: „Wer sitzen bleibt, darf nicht mitreisen und bekommt Privatstunden während der Ferien.“ „Und es sollen Fälle vorgekommen sein, wo Eltern wirklich so ,entmenscht‘ waren, ihre Kinder nicht mitzunehmen,“ versicherte Paul Langer seine Geschwister, als die obige Frage zur Verhandlung kam.

Dr. Langers waren übrigens fest entschlossen, dies Jahr in die Sommerfrische zu gehen, und nur das Wo und Wie bedurfte noch der Feststellung. Hausvater und Hausmutter schworen jeder auf ein anderes Reisehandbuch, und der Streitruf „hie König – hie Becker!“ spaltete vorläufig die Familie in zwei feindliche Lager.

Die Schweiz mit ihren himmelhohen Bergen und blauen Seen lockte unwiderstehlich, und endlich war der Riesenentschluß gefaßt, daß man vollzählig diesen Aufenthalt wählen würde – und zwar unter Mitnahme des Dienstmädchens, da Frau Langer aus Sparsamkeitsrücksichten überall ihr Wirthschaftsbuch mit hinschleppen mußte und der furchtbaren Frage: „Was kochen wir morgen?“ in keiner Lage des Lebens zu entgehen bestimmt war.

Für die arme Hausfrau war daher der Zustand der Seligen im Paradiese vor allem an die Bedingung geknüpft, daß man daselbst nie vorher eine Ahnung haben dürfte, was auf dem Mittagstisch erscheinen werde – viel weniger denn eine bohrende Verantwortlichkeit im Innern fühlen, ob der Braten zu sehr „durch“ sei – ein Vorkommniß, welches den sonst milden und gütigen Hausvater mit Blitzesschnelle in einen tobenden Tyrannen zu verwandeln pflegte.

Ehe an die Ausführung des großen Reiseplans gegangen wurde, waren aber wie gesagt noch die Schulprüfungen und ihre Ergebnisse abzuwarten. Langers sahen sich demgemäß vor die süße und ehrenvolle Aufgabe gestellt, in den letzten drei Tagen vor der Abreise zu mehreren, verschiedenen Stunden sich durch den Augen- und Ohrenschein zu überzeugen, ob man nicht besser thäte, sich das Schulgeld für Paul, Karl, Elli und Anna baar wieder herauszahlen zu lassen, – oder ob das wochenlange Eintrichtern bestimmter Fragen und Antworten am Prüfungstage auch die gewünschten Erfolge haben werde.

Die Mutter hatte bereits einen lebhaften Vorgeschmack der zu erwartenden Freuden gehabt, indem Paul und Anna zu öffentlichem Hersagen je einer Dichtung von ihren verschiedenen Lehrern bestimmt waren.

Paul schnatterte daher seit vier Wochen bei jeder Gelegenheit, beim Essen, beim Schlafengehen, beim Aufstehen, sowie er der Mutter ansichtig wurde, los: „Une cigale ayant chanté tout l'été“ und setzte jedem Versuch, ihn zu dramatischer Auffassung des Gedichts von der „Grille, die den ganzen Sommer gesungen hatte“, zu bringen, einen dumpfen Widerstand entgegen, der wenigstens darüber beruhigte, daß er zu dem dornenvollen Pfade des Schauspielers keine Neigung zeigen werde. – Anna hatte ein kindlich belehrendes Zwiegespräch zwischen zwei Bäumen vorzutragen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 449. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_449.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)