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und steigt mitten empor bis zur Höhe von 143 Metern, wo der Austritt auf eine Kranzplattform gestattet ist. Nirgends ist ein solcher Aufstieg durch eine Thurmpyramide zu finden; man glaubt zu träumen, wenn man von der festen Warte dieser überaus kühnen Treppe aus durch die luftigen Fenster des Helms schaut und sich erinnert, daß man nicht am Erdboden, sondern von einem 102 Meter hohen Springpunkt aus über der Menschenwelt diese Wanderung macht.

Pyramidenstück.

Uebrigens ist diese Treppe mit den Pfeilern und Rippen des Helms durch kühngeschwungene Bogen verspannt, die sich in 3 Stockwerken übereinander wiederholen. Man erhält bei dem Durchblick den Eindruck einer himmelansteigenden Halle. Und oben erst! Wie viele werden es dereinst nicht wagen, auf diesen letzten Kranz zu treten, und von denen, die, wie der Schreiber dieser Zeilen schon so manchesmal, oben stehen und so jäh und senkrecht in die Tiefe sehen, wird nicht mancher ein leises Grauen empfinden neben der stolzen Freude? Ueber uns erhebt sich das letzte ganz massive Stockwerk der Pyramide mit 18 Metern Höhe, in dessen schmaler Rinne eine mächtige eiserne Stange steckt oder vielmehr oben aufgehängt ist, die unten, wo sich die Höhlung erweitert, ein 12 Centner schweres Gewicht trägt. Durch beides soll die ganze Thurmspitze gegen Schwankungen bei starkem Sturme eine Versteifung erhalten. Sicherlich wird künftig diese Thurmbesteigung in Ulm zum Merkwürdigsten und Kühnsten gehören, womit ein Besucher der Stadt, die dieses nun vollendete großartige Kunstdenkmal zu besitzen das Glück hat, seine Münsterwanderung beschließen und krönen kann. Und dann wird er lächelnd herabblicken auch auf den „Ulmer Spatz“, den der Ulmer Humor nach Vollendung der bunten Ziegelbedeckung wieder auf den Dachfirst zu setzen sich nicht nehmen ließ; eine Ulmer Gesellschaft hat das neue Exemplar in getriebener Arbeit mit Vergoldung gestiftet; der alte „Vogel“, wie er ursprünglich genannt ist, sollte einfach den Mittelpunkt der Stadt bedeuten! Und hinaufblickend zur sonnenvergoldeten Spitze wird der Wanderer auch an des alten Kirchenmeisters Töchterlein denken – ihr Vater soll Böblinger gewesen sein – von welcher die Sage geht, daß Kaiser Maximilian II. einen Kuß von ihr verlangt habe. Da sprach sie: „Ja, droben auf des Thurmes Spitze könnt Ihr ihn haben.“ Und heute, wo diese Spitze vollendet ist, wäre sie noch sicher, daß die heißeste Liebe sich da nicht hinaufwagen würde? – Es ist etwas Großes, Hochbefriedigendes, daß bei diesem ganzen Thurmaufbau, welcher alles in allem fast das jetzt zu Ende gehende Jahrzehnt (1882 bis 90) in Anspruch nahm, kein einziges Menschenleben durch Unglücksfall zu Grunde gegangen ist, wo doch die Bauhütte 100–120 Mann betrug und die jahrelange Arbeit in solcher Höhe an und für sich des Gefährlichen genug bot. Es wirft diese Thatsache ein Licht auf die rühmliche Sorgfalt und Vorsicht der Bauleitung, auf die vollbewußte Sicherheit, mit der Prof. Beyer die ganz riesigen und schwierigen Gerüste Stockwerk für Stockwerk aufeinander zu thürmen verstand, welche schon allein eine bauliche Merkwürdigkeit sind. Noch werden diese Gerüste, mit Ausnahme der Pyramidenspitze, die freigelegt wird, einige Jahre den kühnen Bau verschleiern. Erst mit der Ergänzung fehlender Einzelheiten, wie z. B. des reichen Achteckskranzes, können dieselben allmählich abgebrochen werden. Auch im Innern der Kirche ist mit der Bemalung der Gewölbe an den Seitenschiffen erst begonnen worden und noch manches unvollendet, manches nöthig und geplant, wozu das bevorstehende Fest die fernere opferwillige Theilnahme der Nation erwecken möge! Dennoch wird der Eindruck überwältigend sein für jeden, der durch das große Hauptportal mit der erwähnten herrlichen Vorhalle – welches zum ersten Male seit 10 Jahren bei diesem Fest wieder dem allgemeinen Gebrauch übergeben wird – in die neue Thurmhalle eintritt und von hier aus durch den 13,50 Meter hohen Ostbogen den Blick durch die majestätische Halle bis zu dem im Zauberlicht schwimmenden


Choraltarbild von Martin Schaffner.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1890, Seite 447. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_447.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)