Seite:Die Gartenlaube (1890) 446.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Reliefs geschmückten Eingang zum Dom bildet, „vielleicht die schönste Vorhalle der Welt“, wie ein Kenner bezeugt. So ist auf dieser unten breiten massigen Anlage die wundervolle Zuspitzung des Thurms begründet, welche die Hand des anderen der genannten großen Meister vorgezeichnet hat, des Matthäus Böblinger.

In einer Kapelle des Ulmer Münsters befindet sich der Originalriß, worauf Ulrichs Viereck durch Achteck und Helm zur Vollendung gebracht ist. An der Stelle, wo Ulrichs Sohn Matthäus den Bau stehen ließ, sind die Worte geschrieben: „da hat angefangen zuo machen an dem duoren (Thurm) zuo ulm mathe(us) Böblinger.“ Und weiter oben am Schluß des Vierecks: „da hat uffgehert zuo buowen an dem duoren mathe(us) Böblinger.“ Der ganze Thurm ist aber darüber ausgezeichnet bis zur Spitze. – Es waren fast 60 Jahre nach Ulrich Ensingers Tod, als Meister Matthäus Böblinger, der Erbauer der Eßlinger Frauenkirche, von dort 1477 nach Ulm berufen ward an den Münsterbau, nachdem er schon zuvor dorthin gearbeitet hatte. War ihm nur ein kleines Stück, das letzte Drittel des Vierecks, am Thurm auszuführen beschieden gewesen, als er spätestens 1494 nach Eßlingen zurückkehrte [1], so hinterließ er doch die Durchführung jenes Ensingerschen Originalrisses, nach welchem fast vier Jahrhunderte nachher der Ulmer Thurm ausgeführt steht.

Böblingers Abgang bezeichnet die Wende des Jahrhunderts. Große Umwälzungen warfen ihre Schatten voraus. An ein Weiterbauen war nicht zu denken. Die vierte, letzte Bauperiode ist der Erhaltung des Vorhandenen gewidmet. Aus der dreischiffigen Kirche machte Burkhard Engelberg eine fünfschiffige. Die schlanken Rundsäulen und köstlichen Sterngewölbe, wodurch er das eine Seitenschiff jederseits theilte, sind weltbekannt, die schönsten Zierden des Innenbaues, die sich unvergänglich erhielten, während das Innere sonst vom 16.–19. Jahrh. vielfach seiner Kunstschätze beraubt, an den bemalten Wänden übertüncht ward und das unvollendete Aeußere düster zum Himmel starrte, wie auch unsere Ansicht aus dem Jahre 1666 es zeigt, auf welcher wir den zur Jahresfeier der Grundsteinlegung veranstalteten Festzug erblicken. Doch ward der Bau mit rührender Sorgfalt gehütet von der Bürgerschaft Ulms, welche ihr Münster seit dem Uebertritt der Stadt zur Reformation als den einzigen protestantischen der großen deutschen Dome ehrt und gebraucht.

Da brach der neue deutsche Frühling herein seit den Freiheitskriegen von 1813. In der wiedererwachenden Liebe für das Mittelalter, für die altdeutsche Kunst erstieg das deutsche Volk die erste Sprosse seiner Wiedergeburt.

Auch in der indessen dem Königreich Württemberg zugefallenen alten Reichsstadt Ulm regte sich dieser Geist. Durch die Bemühungen des dort gegründeten „Vereins für Kunst und Alterthum“, durch die Bereitwilligkeit der Ulmer städtischen Körperschaften, für das ehrwürdige Denkmal ihrer alten Größe etwas zu thun, kam der Gedanke der Ulmer Kunstfreude, unter denen besonders der spätere württembergische Landeskonservator und Oberstudienrath Dr. K. D. Haßler zu nennen ist, zu That und Leben. Am 21. August 1844 ward in aller Stille das Werk der Restauration begonnen. Das Ziel dachte man sich damals hoch genug zu stellen in der Rettung der dem Verfall entgegengehenden Theile, in der Ergänzung des Nöthigsten, in der Einfügung der fehlenden Strebebögen von der Hauptschiffwand zur äußeren Mauer der Seitenschiffe herab.

Mit der Ausführung der letzteren (1856–70) schuf sich der erste Baumeister der Restauration, Karl Ferdinand Thrän, sein größtes Denkmal. Diese majestätischen Bogen, welche der Besucher Ulms jetzt den Seiten des riesigen Gebäudes entlang bewundert, sind mit 18,4 Metern Spannweite die mächtigsten, welche ein deutscher Dom aufweist, und auf ihrem Fuß ruhen die 20 Meter hohen Belastungspyramiden in herrlicher Flucht hintereinander. Dem zweiten Baumeister der Restauration, Ludwig Scheu, fällt die Ausführung des reizvoll äußeren Chorumgangs und der beiden Chorthürme von 86 Metern Höhe zu, diese wie jener im Bauplan angelegt und vorbereitet. – Schon 1857 äußerte der kunstsinnige Friedrich Wilhelm IV. von Preußen gegen den genannten Dr. Haßler erstmals, „man solle nicht bloß an die Restauration des Münsters, sondern auch an den Ausbau des Thurmes denken“. Das Königswort fand Widerhall in allen deutschen Herzen. Wir müssen hier dankbar gedenken, wie viel das württembergische Königshaus, das Hohenzollernhaus und die ganze deutsche Nation durch Gaben und Spenden an dem Werk gethan haben. Es bedurfte aber in Ulm selbst einer thatkräftigen und weitblickenden Persönlichkeit, welche mit organisatorischem Geschick alle Kräfte auf das höchste Ziel, den Ausbau des Hauptthurmes, zusammenzufassen verstand. Das ist der Oberbürgermeister der Stadt seit 1863, von Heim. Der Baumeister dazu wurde in Professor August Beyer gefunden, dem Schüler von Josef Egle, welcher seine Berufung nach Ulm vorschlug. Wir bringen unsern Lesern das Bild Beyers, welcher durch Vollendung des Thurms nach dem erwähnten alten Böblingerschen Plan einen unvergänglichen Ruhmeskranz sich ums Haupt geflochten hat.

Wir sehen nun das Achteck, von vier zierlichen Treppenthürmchen flankirt, sich auf dem Viereck erheben und darüber in 6 Stockwerken die Pyramide in glänzendster Verzierung. Statt des einförmigen Vierpasses, d. h. eines sich gleichmäßig wiederholenden, in eine viereckige Umfassung eingesetzten Maßwerks wie bei den Thurmhelmen von Freiburg, Köln, Regensburg etc. etc. hatte der alte Meister in seinem Entwurf in mehreren Stockwerken übereinander hohe lustige Fenster mit Bogenmaßwerk vorgesehen, deren Spitzen in Wimpergen über die Seitenrippen hinausschießen. Diese umgeben nun Stockwerk für Stockwerk mit einem Kranze von zauberhafter Wirkung, die ihresgleichen an keinem Thurme der Welt hat! Die obere Abbildung auf Seite 447 macht das deutlich. Sie zeigt eben den eigenartigen Schmuck der Pyramide, das Heraustreten der ausgeschweiften Wimpergen, deren letzte Spitze noch fehlt.

Wo sonst die acht Rippen der Thurmpyramiden die gleichmäßig sich wiederholenden Krabben zeigen, werden die Tausende, welche jetzt das Fest der Einweihung und künftig ihr Reiseziel nach Ulm führt, mit Staunen das Wunderwerk dieses Helms beschauen, wo alles in Fülle und Abwechslung so frei und leicht nach oben steigt – ein steinern Blüthengebilde von Knospen und Zweigen umrankt, von der großen Kreuzblume bekrönt, über welcher die kleinere in harmonischer Verjüngung zur himmelragenden Spitze überleitet.

Wie schön ist das Wagniß gelungen, das immer in der Umfangsberechnung der großen Kreuzblume auf die Höhe ihres Standorts liegt! Diese kolossale Steinarbeit aus vier Stücken, deren Durchmesser 3 Meter, deren Gesammtgewicht 700 Centner beträgt [2], sieht nun von oben herab so zierlich und leicht drein wie eine Blumenkrone, dennoch kräftig genug, um der Thurmsilhouette eine schöne wellenförmige Ausladung zu geben.

Aber noch schwieriger als dies Meisterstück unseres Thurmvollenders war die Aufgabe Beyers, den ganzen leicht hingezeichneten Riß Böblingers überhaupt in die Ausführung zu übersetzen. Die hervorragende technische Leistung, die hierin liegt, werden die Fachmänner zu würdigen wissen. Wir erwähnen hier gelegentlich die Verstärkungsbauten von unten auf, welche der Tragkraft wegen auszuführen waren, ehe nur an einen Aufbau zu denken war; ferner daß Professor Beyer mit richtigem Gefühl die Verhältnisse des Originalrisses dahin abänderte, daß das Achteck etwas niedriger (32 Meter), der Helm ziemlich höher (59 Meter) gehalten ward, wodurch der Thurm selbst statt auf 151 auf 161 Meter Höhe vom Boden der Portalhalle aus kam (von der Linie des Platzes aus gegen 162 Meter). So ist er der höchste künstlerische Thurm der Welt geworden, die Kölner Domthürme um 5 Meter überragend. Es sollte dadurch erreicht werden und ist erreicht worden, daß der Ulmer Helm nicht die Fehler so mancher theilt, von unten sich zu sehr zu verkürzen und zu tief im Achteckskranz drinnen zu stecken. Nein, frei und mit mächtigem Ruck springt er vom Achteck weg; schlank und kühn, in leichter Einziehung und harmonischer Verjüngung schießt er hinauf und reißt unser entzücktes Auge mit. Aber unser Meister hat noch etwas Weiteres gethan. Er hatte den überaus glücklichen Gedanken, die Hinaufführung einer Wendeltreppe durch die Pyramide von der Frauenkirche in Eßlingen, die ja Böblingers Werk ist, herüberzunehmen und hier in größerem Stil durchzuführen. Und so erhebt sich denn vom Boden der Pyramide (zu welchem die Seitenwendeltreppen führen), freistehend auf acht Tragebogen, ein steinerner Treppencylinder mit Fensterchen

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1890, Seite 446. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_446.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)
  1. Die Sage führt das Herabfallen zweier Steine aus dem Steingewölbe während des Gottesdienstes als ersten Anlaß seines Weggangs, seiner „Flucht“ an.
  2. Unsere Abbildung giebt eine Aufnahme der vor Versetzung im Münster aufgestellten Helmspitze mit beiden Kreuzblumen und Knopf wieder.