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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Engelbert antwortete nicht sogleich. Augenscheinlich hatte er da einen kleinen Kampf mit sich selber zu bestehen, und die Augen des jungen Mädchens, die so ernst und unbequem fragend auf ihn gerichtet waren, setzten ihn unverkennbar in eine Verwirrung, wie sie Marie nie zuvor an ihm wahrgenommen hatte.

„Was Dir verschwiegen worden?“ brachte er endlich mit einem nur halb gelungenen Versuch, seinen gewöhnlichen leichten Ton anzuschlagen, hervor. „Ich wäre vielleicht nicht gekommen, wenn ich nicht geglaubt hätte, daß Du bereits unterrichtet seiest. Es giebt eben Fälle, in denen man am besten thut, zunächst die Thatsachen selber sprechen zu lassen.“

Aufrichtiges Erstaunen prägte sich in Mariens Zügen aus. Seine Andeutungen und räthselhaften Umschreibungen mußten ihr in Wahrheit völlig unverständlich sein.

„Du hast eine seltsame Art, meine Wißbegierde rege zu machen,“ sagte sie, „das klingt ja in der That, als wäre da etwas Außerordentliches im Werke und als hätte ich Grund, mich auf schlimme Neuigkeiten gefaßt zu machen.“

Draußen ging eine Thür, und man hörte die tiefe Stimme des Generals, der nach seinem Sohne fragte. Seine bisherige Zurückhaltung plötzlich aufgebend, trat Engelbert rasch auf Marie zu. „Ach, wozu sollen wir davon reden, ehe es nöthig ist!“ flüsterte er. „Von dem Verhängniß, dessen Lauf man nicht aufzuhalten vermag, wird man ja immer noch früh genug ereilt. Sei gewiß: wenn es noch ein Mittel giebt, das Verhaßte abzuwenden, so werde ich sicherlich nicht zögern, mich desselben zu bedienen. Und was auch immer kommen mag, jedenfalls mußt Du mir glauben, daß ich nur Dich geliebt habe, nur Dich allein liebe und in alle Ewigkeit lieben werde, meine theure, angebetete Marie!“

Er hatte sie an sich gerissen und sie zweimal heiß und stürmisch geküßt, ehe sie in ihrer Ueberraschung die Kraft gefunden hatte, sich gegen sein Beginnen zu sträuben. Dann war er ohne ein weiteres Wort, ohne Gruß und Abschied, aus dem Zimmer geeilt, und Marie hörte seinen sporenklirrenden Schritt draußen auf dem Gange verhallen.

Mit einem aus Bestürzung, Beschämung und Unwillen gemischten Empfinden lauschte sie diesem Klange, unfähig, über das eben Erlebte sogleich zu voller Klarheit zu gelangen. So wie sich Engelbert jetzt von ihr getrennt hatte, pflegt man sich von derjenigen, die man liebt, doch nur zu trennen, wenn es einen Abschied für das Leben gilt, – und das gewaltsame Hervorbrechen seiner bis dahin augenscheinlich mit schwerer Selbstüberwindung zurückgedrängten Leidenschaft im Verein mit den dunklen Hinweisen auf ein Verhängniß, dessen Lauf er nicht mehr aufzuhalten vermöge, mußten sie in der Befürchtung bestärken, daß irgend ein Unglück, ein geheimnißvolles, furchtbares Unglück drohend über ihrem Haupte schwebe.

Aber sie zerbrach sich vergebens den Kopf, um über die Natur dieses Unglücks zu einer Vermuthung zu gelangen, die ihr selber halbwegs glaubwürdig erschienen wäre.

Sie dachte daran, daß er vielleicht vor einem Zweikampf stände, dessen Ausgang ein tödlicher sein könnte; doch wenn auch seine letzten Aeußerungen mit einer solchen Annahme wohl in Einklang zu bringen waren, – was konnte ein Duell Engelberts mit ihrer Anwesenheit bei der Hainriedschen Gesellschaft zu thun haben?

Wenn es sich aber nicht um eine Gefahr handelte, welche dem Leben Engelberts drohte – um was nur konnte es sich sonst handeln? – Für einen Augenblick wohl dachte Marie an die Gräfin Hainried, an die Huldigungen, welche Engelbert ihr dargebracht, und an die Gunstbeweise, durch welche die Tochter des künftigen Kriegsministers ihn in so augenfälliger Weise ausgezeichnet hatte. Doch der häßliche, mißtrauische Gedanke verschwand noch schneller, als er gekommen war. Selbst der Glaube an die tollste und abenteuerlichste Möglichkeit hätte ja mehr innere Berechtigung gehabt als dieser unwürdige Zweifel. Wäre es auszudenken gewesen, daß Engelbert in erbärmlicher und ehrloser Wandelbarkeit die Stirn haben sollte, seine Schwüre zu brechen und durch die Anknüpfung eines neuen Bandes einfach zu verleugnen, was zwischen ihm und seiner jungen Verwandten geschehen war, – so konnte es doch unmöglich seine Absicht sein, der tödlichen Kränkung auch noch den grausamsten Hohn hinzuzufügen! Vielleicht ließ sich an die Möglichkeit glauben, daß ein Mann feige genug sein könnte, schimpflichen Verrath an einem Mädchen zu begehen, ohne das Herz zu einer offenen und rückhaltlosen Erklärung zu finden, – aber nimmermehr konnte ein solcher Mann den traurigen Muth haben, mit dem Bewußtsein des begangenen Verraths im Herzen noch einmal von der Ewigkeit seiner Liebe zu sprechen und sich noch einmal das Recht einer Zärtlichkeit zu nehmen, auf die nur der künftige Gatte Anspruch erheben darf.

Nein, was auch immer geschehen konnte, und von wie furchtbarer Beschaffenheit das Unbekannte, Unbegreifliche sein mochte, dessen Herannahen Marie nach diesem seltsamen Auftritt in ahnungsvollem Bangen deutlich und immer deutlicher zu fühlen meinte, an eine Treulosigkeit Engelberts durfte sie nicht glauben, ohne sich zugleich eines schweren Unrechts gegen ihn schuldig zu machen und ohne zu ihrer eigenen Qual zu zerstören, was an Lebensmuth und gläubigem Vertrauen auf den Edelsinn der Menschen in ihrer Seele lebte.

Bis in die Tiefen ihres Wesens erschüttert, von Sorgen und Zweifeln gepeinigt und vielleicht am meisten von einer immer wieder erwachenden Regung der Unzufriedenheit mit ihrem eigenen Verhalten gequält, war Marie wahrlich in wenig geeigneter Stimmung für die Erfüllung der Aufgabe, welche sie da aus Mitleid mit der Verlegenheit des Rittmeisters von Boretius auf sich genommen hatte. Aber es handelte sich um die Erfüllung einer Pflicht, vor der es kein Entrinnen mehr gab, und mit entschlossenem Zusamenraffen ihrer starken Willenskraft vertiefte sich Marie immer aufs neue in den Wortlaut und den Geist der schönen Gelegenheitsdichtung, wie vollständig auch ihre Theilnahme an dem großartigen Wohlthätigkeitsfest geschwunden war und wie oft auch trotz des redlichsten Bemühens ihre Gedanken weit hinweg flogen zu ganz anderen Dingen.




Lauter, herzlicher, langanhaltender Beifall war den letzten Versen der ergreifenden Dichtung gefolgt, und diejenigen, welche sich in der unmittelbaren Umgebung des freudestrahlenden Dichters befanden, schüttelten ihm glückwünschend die Hände. Er war sehr niedergeschlagen gewesen, als man ihm mitgetheilt hatte, daß die Sprecherin des Prologes nur wenige Stunden gehabt habe, um sich mit demselben vertraut zu machen, nun aber erklärte er mit stolzer Bescheidenheit, daß seine kühnsten Erwartungen durch den meisterhaften Vortrag weit übertroffen worden seien und daß die Wirkung des Gedichtes mehr als zur Hälfte auf die Rechnung der talentvollen jungen Dame gesetzt werden müsse.

In der That hatte Marie die niederdrückende Befangenheit, von welcher sie angesichts der hundertköpfigen, glänzenden Zuhörerschaft ergriffen worden war, rasch überwunden, die gluthvolle Wärme der Dichtung hatte sie schon nach den ersten Versen heiß und ungestüm mit sich fortgerissen, und ohne jedes leere theatralische Pathos, doch desto eindringlicher und zu Herzen gehender hatte ihre schöne, wohllautende Stimme den mäßig großen Raum erfüllt. Als sie am Arme des Herrn von Boretius in ihrem einfachen weißen Gewande von dem kleinen Podium herabstieg, machte sie die freudige Erregung über das Gelingen des kühnen Wagnisses, welche ihre zarten Wangen lebhafter röthete, so holdselig und lieblich, daß ein Murmeln der Bewunderung durch die Reihen der aristokratischen Versammlung ging und daß der noch einmal mit vermehrter Wärme hervorbrechende Beifall sicherlich viel weniger der Kunst der Sprecherin als ihrer siegreichen Schönheit galt.

In dem Nebenzimmer, wohin Boretius unter vielen überschwenglichen Lobeserhebungen Marie geleitete, sah es bunt genug aus. Nicht nur die vornehmen Dilettantinnen, welche in dem Konzert mitwirken sollten, sondern auch die kostümirten Verkäuferinnen hatten sich dort versammelt, und es schwirrte, flüsterte und kicherte in freudiger, erwartungsvoller Spannung wie hinter den Coulissen einer großen Bühne, auf welcher ein glänzendes Ausstattungsstück in Scene gehen soll.

Cilly von Brenckendorf, die nie zuvor so reizend ausgesehen hatte wie in ihrer koketten spanischen Tracht, eilte auf ihre Base zu und küßte sie auf beide Wangen.

„Ich habe an der Thürspalte gestanden und habe alles gehört,“ rief sie. „Tausend Glückwünsche zu Deinem großartigen Erfolg! Ich glaube, wenn Du heute abend die Julia im Schauspielhause spielen müßtest, es kostete Dich nicht mehr als eine halbe Stunde der Vorbereitung.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 424. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_424.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)