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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

„Aber ich bitte, Excellenz – von Schauspielerei kann da doch wohl kaum die Rede sein. Sämmtliche an dem Konzert Mitwirkenden gehören der Gesellschaft an und die Eintrittskarten sind ausschließlich in unseren Kreisen verkauft worden. Man könnte ebensowohl einen Hofball ein öffentliches Vergnügen nennen.“

„Aber der Name der Gräfin Hilgers bleibt auf dem Programm – nicht wahr?“ fragte Cilly, der die Rathlosigkeit des armen Rittmeisters sichtlich einiges Vergnügen machte.

„Allerdings – es wird sich nicht ändern lassen,“ gab er kleinlaut zu. „Die Dinger sind ja nun ’mal fertig, und in so kurzer Zeit können neue nicht mehr hergestellt werden. Doch wird dem Vortrage natürlich eine entsprechende Ankündigung voraufgehen, und man wird nicht versäumen, das Verdienstliche solcher Stellvertretung gebührend zu betonen.“

In diesem Augenblick trat der General in das Zimmer, und nachdem er von dem Anliegen des Rittmeisters unterrichtet worden war, fragte er in seiner gewohnten verbindlichen Weise:

„Welchen Umfang hat das Gedicht, das hier in Frage kommen würde?“

Herr von Boretius zog die Niederschrift aus der Tasche.

„Einen ganz mäßigen, Excellenz! Acht Strophen zu je zehn Versen! Es enthält eine ergreifende Schilderung der Katastrophe sowie des Elends, welches sie im Gefolge gehabt hat, und schließt mit einem feurigen Aufruf an die Mildthätigkeit der Mitmenschen. Schon beim Lesen wird man bis zu Thränen gerührt.“

Um so größer müssen demnach auch die Anforderungen sein, welche es an die Vortragskunst der Sprecherin stellt. Das Talent meiner Tochter aber dürfte schwerlich ausreichen, ihr die Erlernung dieser Kunst innerhalb weniger Stunden zu ermöglichen, und Ihr Wunsch, mein lieber Herr Rittmeister, ist außerdem schon deshalb unerfüllbar, weil wir für den heutigen Abend zu einem Essen geladen sind, bei welchem meine Tochter aus ganz besonderen Gründen keinesfalls fehlen darf. Nicht einmal zum bloßen Auswendiglernen würde ihr da die erforderliche Zeit verbleiben.

Der bedauernswerthe Rittmeister blickte in tiefster Niedergeschlagenheit auf seine Papierrolle.

„Dann habe ich allerdings keine Hoffnung mehr! Der Prolog wird ganz ausfallen müssen! – Es ist jammerschade um das herrliche Werk, und der berühmte Dichter wird außer sich sein, um so mehr, als wir ihn schon mit ganz besonderer Feierlichkeit eingeladen haben.“

„Versuchen Sie doch Ihr Heil bei irgend einer hervorragenden Schauspielerin. Diese Damen wissen solche Aufgaben ja in kürzester Zeit zu bewältigen.“

„Unmöglich, Excellenz, leider ganz unmöglich! Das Konzert würde durch die Mitwirkung einer Berufskünstlerin sein Gepräge vollständig verlieren.“

Man gab ihm keine Antwort, und das war ein Zeichen, daß seine Sendung hier als beendet angesehen werde. Schon hatte er der Generalin seine Abschiedsverbeugung gemacht, als Marie, die sich bis dahin ganz still verhalten hatte, mit merklicher Zaghaftigkeit sagte:

„Wenn Ihre Verlegenheit wirklich so groß ist, Herr Rittmeister, und wenn Sie ganz sicher sind, einen besseren Ersatz nicht mehr zu finden, so will ich meine geringen Talente dem guten Zweck gern zur Verfügung stellen.“

Die Wirkung ihrer Worte war begreiflicherweise bei allen Anwesenden diejenige einer sehr lebhaften Ueberraschung. Herr von Boretius aber verstand sich gut auf seinen Vortheil: ehe noch ein anderes zum Worte gekommen war, versicherte er Marie in Ausdrücken überschwenglichsten Entzückens der ewigen Dankbarkeit des Ausschusses, des Publikums und sämmtlicher Ueberschwemmten. Ehe sie noch recht wußte, wie ihr geschah, hielt Marie die inhaltsschwere Rolle bereits in der Hand.

Es hatte nicht einmal den Anschein, als würde der General durch den überraschenden Entschluß seiner Nichte unangenehm berührt. Mit einem kleinen Lächeln beglückwünschte er den Rittmeister scherzend zu seinem Erfolge, und auf Mariens schüchterne Bitte, daß er es übernehmen möge, ihr Ausbleiben bei dem Grafen und der Gräfin Hainried zu entschuldigen, beruhigte er sie durch die Versicherung, daß er ihr volle Verzeihung erwirken werde.

Die „ganz besonderen Gründe“, welche Cillys Erscheinen bei dem Essen zu einem so unerläßlichen machten, mußten also für Marie wohl keine Geltung haben. –

Als sich der Rittmeister von Boretius mit erhobenem Haupte und strahlendem Antlitz entfernt hatte, gab Cilly, während sie die Verwandte in den zweiten Stock hinauf geleitete, ihrer Verwunderung lauten und lebhaften Ausdruck:

„Natürlich wirst Du einen ungeheuren Triumph feiern, denn ich glaube, Du hast zu allem Talent, was Du nur unternimmst; aber Du mußt schon verzeihen, daß ich mich von meinem Erstaunen trotzdem noch immer nicht erholen kann. Es gehört doch wirklich eine gewisse Selbstverleugnung dazu und jedenfalls heidenmäßig viel Muth.“

„Vielleicht aber leitete mich bei meinen Anerbieten weder das eine noch das andere,“ erwiderte Marie; „es war der plötzliche Entschluß des Augenblicks, und was könnte es helfen, wenn er mich jetzt reute!“

Daß der Wunsch, unter einem stichhaltigen Vorwand dem Essen bei dem künftigen Kriegsminister fernbleiben zu können, wohl den wesentlichsten Antheil an jener plötzlichen Entschließung gehabt hatte, gestand sie ihrer Base freilich nicht ein. Hätte sie doch sich selber gern davon überzeugt, daß es nicht so sei, und daß die Beklommenheit und das Unbehagen, mit welchen sie bisher dem heutigen Abend entgegengesehen hatte, ihre Ursache in irgend etwas anderem als in einem leisen Nachzittern jener eifersüchtigen Regungen gegen die junge Gräfin Hainried gehabt haben müßten.

Auf einem Ruhebett in ihrem Zimmer liegend, las sie das Gedicht, das in der That von hohem dichterischen Schwunge und von unfehlbar mächtiger Wirkung war. Das Zagen vor der Schwierigkeit ihrer Aufgabe, das sie unter dem ersten Eindruck hatte überkommen wollen, verschwand bald vor der aufrichtigen Begeisterung, mit welcher sie sich in dieselbe vertiefte. Von dem kühnen Gedankenfluge und der packenden, bilderreichen Sprache des Dichters fortgerissen, vergaß sie sehr schnell das verschmähte Abendessen und die kokette Gräfin.

Achtlos und halb unbewußt rief sie „Herein!“, als nach Verlauf einer halben Stunde an die Thür ihres Zimmers geklopft wurde, – und sie richtete sich erst in Verwunderung und leichtem Erschrecken empor, als sie Engelbert über die Schwelle treten sah.

Er schien ernster als sonst, und auch die gewohnte Sicherheit und siegesgewisse Zuversicht waren nicht in seinen Mienen.

„Außerordentliche Umstände können wohl einmal einen kleinen Verstoß gegen das Herkommen entschuldigen,“ sagte er, einer erstaunten Frage Mariens zuvorkommend. „Du darfst überzeugt sein, daß ich diesem Besuch die allerunschuldigste und glaubwürdigste Deutung geben werde, wenn wirklich irgend eine Spürnase etwas von demselben bemerkt haben sollte.“

Marie hatte sich rasch erhoben, und ohne jede Verlegenheit stand sie ihm gegenüber.

„Ich denke, Du wirst aus der Ursache dieses Besuches vor niemand ein Geheimniß zu machen brauchen,“ sagte sie, und ihre Erwiderung klang stolz und zurückhaltend, wie wenn sie zu einem Fremden spräche. Und doch schien es heute keineswegs erforderlich, ihn durch ihre Haltung an einer der gewöhnlichen Aeußerungen seiner leidenschaftlichen Zärtlichkeit zu hindern. Engelbert war hart neben der Thür stehen geblieben, und er wirbelte an seinem Schnurrbart viel eher wie ein verlegener und unbeholfener Jüngling denn wie ein stürmischer und rücksichtsloser Liebhaber.

„Du hast einen Vorwand gesucht, um uns nicht zu den Hainrieds begleiten zu müssen,“ fuhr er, ihre stolze Bemerkung unbeantwortet lassend, fort. „Man hat Dir also gesagt, um welche Absichten es sich da handelt?“

„Ich verstehe Dich nicht, Engelbert! Besondere Absichten – bei einem Abendessen? – Nein, man hat mir von nichts derartigem gesprochen!“

Der Offizier zeigte sich sehr unangenehm überrascht.

„Wirklich nicht? Und es wäre in der That nur diese alberne Bazargeschichte gewesen, welche Dich veranlaßt, daheim zu bleiben?“

„Nichts anderes als das! Aber vielleicht hast Du die Freundlichkeit, mir mitzutheilen, was mir allem Anschein nach von den anderen verschwiegen worden ist. Vermuthlich war dies doch die Veranlassung Deines Besuches.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 423. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_423.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)