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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Der Schlaf.

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III. Warum schlafen wir?

Was ist der Schlaf? Warum schlafen wir? Das sind sehr naheliegende Fragen, die sich der Mensch seit uralten Zeiten gestellt hat, auf die er aber bis auf den heutigen Tag eine bestimmte Antwort nicht geben konnte. Die Erscheinungen des natürlichen Schlafes sind uns wohl bekannt, wir wissen, daß der tiefe traumlose Schlaf mit dem völligen Erlöschen der Aufmerksamkeit verbunden ist; unsere Sinnesorgane sind in ihm gegen schwächere äußere Reize, die wir selbst im Zustande der Schläfrigkeit noch deutlich wahrnehmen, unempfindlich, die willkürlichen Bewegungen hören auf, und ebenso erlischt die Fähigkeit, Vorstellungen logisch zu verknüpfen, Gedanken zu bilden. Doch nur ein Theil des Organismus stellt im Schlaf seine Thätigkeit ein, physiologische Vorgänge, die von der Aufmerksamkeit nicht abhängen, vollziehen sich mit noch größerer Regelmäßigkeit als im wachen Zustande: unser Herz arbeitet und das Blut kreist in den Adern, wir athmen, unser Körper bildet Wärme, die chemischen Prozesse erleiden keinen Stillstand, wenn sie auch von denen, die sich im Wachsein vollziehen, verschieden sein dürften. Das Gefühl der Erholung und Erquickung, welches auf den Schlaf folgt, läßt auch die Annahme berechtigt erscheinen, daß zu dieser Zeit gerade die aufbauenden Vorgänge, welche die Erneuerung des Organismus herbeiführen, vorwiegend walten. Das Organ, welches im Schlafe in erster Linie ruht und sich erholt, ist aber das Gehirn, das Organ der geistigen Thätigkeit. Wir könnten somit den Schlaf als die in regelmäßigen Fristen wiederkehrende Ruhe des Gehirns ansehen. Daß sie unumgänglich zur Erhaltung der Gesundheit nöthig ist, weiß jedermann; denn wenn wir den Schlaf durch fortwährend neue Reize anhaltend verscheuchen, so tritt endlich eine schwere Schädigung des Gehirns ein.

Warum aber müssen wir schlafen? Die Frage läßt sich nach dem heutigen Stande der Wissenschaft etwa wie folgt beantworten:

Während unser Organismus wacht, während wir arbeiten und denken, werden in uns Zersetzungsprodukte gebildet, welche aus dem Körper ausgeschieden werden müssen, wenn er leistungsfähig bleiben soll. Die Anhäufung dieser Stoffe verursacht Ermüdung, und man hat sie darum „Ermüdungsstoffe“ genannt. Sind sie in größeren Mengen vorhanden, so stören sie auch die Thätigkeit des Gehirns, setzen seine Erregbarkeit herab und zwingen es zur Ruhe. Der Schlaf tritt alsdann ein. Während desselben werden nun neue Ermüdungsstoffe gar nicht oder nur in geringen Mengen gebildet, der Organismus hat somit Zeit, die vorhandenen angehäuften Stoffe auszuscheiden. Ist dies geschehen, so hat sich der Körper erholt und wir erwachen erquickt und gestärkt.

Der berühmte Physiologe W. Preyer, welcher diese Deutung des Schlafes aufstellte, hat namentlich auf die Milchsäure als einen hervorragenden Ermüdungsstoff hingewiesen. Infolgedessen wurden vielfache Versuche mit der Milchsäure angestellt, um dieselbe auf ihre schlafverursachende Wirkung zu prüfen. In der That stellten sich nach Darreichung derselben sowohl bei Menschen wie bei Thieren Schläfrigkeit und Schlaf ein, aber nicht in allen Fällen, ebenso häufig erwies sich das Schlafmittel als unwirksam. Preyer hat jedoch von Anfang an darauf hingewiesen, daß wir die Ermüdungsstoffe, welche der Körper erzeugt, erst sehr wenig kennen, und daß erst nach dieser Richtung hin Vorarbeiten gemacht werden müssen.

In der That scheinen die neuesten Ergebnisse der Forschung viel zum Ausbau jener Erklärung des Schlafs beizutragen. Es sind in den letzten Jahren unter den Zersetzungsprodukten Stoffe bekannt geworden, die den Körper äußerst stark beeinflussen.

Wir wußten längst, daß gewisse Pflanzen äußerst starke Gifte erzeugen, denen auch betäubende Wirkung zukommt; es sind dies die Alkaloide, eine Gruppe von chemischen Verbindungen, von denen das Morphium als das bekannteste erwähnt sein mag, das Morphium, welches wie eine Reihe anderer Mittel einen künstlichen Schlaf hervorruft. Bis vor kurzem war es nicht bekannt, daß auch der thierische Körper ähnlich wirkende Stoffe erzeuge. Da fand man sie in den Leichen und verwesenden Substanzen und nannte sie „Leichengifte“ oder „Ptomaïne“. Die Bahn für die Untersuchungen war geebnet, und man fand ähnliche Gifte in dem Speichel und Urin gesunder Menschen, man fand im Fleische die sogenannten Leukomaïne, welche mehr oder weniger stark die Nervencentren beeinflussen und Ermüdung und Schläfrigkeit hervorrufen. Diese Entdeckungen bieten wesentliche Stützen für die erwähnte Lehre vom Schlafe; derselbe wäre demnach durch eine Art von Selbstvergiftung hervorgerufen, und die Ruhe, welche er gewährt, wäre dazu bestimmt, den Körper von den schädlichen Stoffen wieder zu befreien.

Durch diese Auffassung wird vieles erklärt. Wir begreifen, warum der Schlaf eine periodische Erscheinung ist, aber in der Dauer der Perioden so wechselnd; wir begreifen, warum es einen festen und minder tiefen Schlaf giebt; es kommt ja auf die Grade der Selbstvergiftung an. Aber der Begründer der Lehre selber warnt vor zu eiligen Schlüssen; ein Mann der strengen Forschung, will er nicht geistreiche Vermuthungen aufstellen, sondern verlangt beweisende Thatsachen – und solche entscheidende Versuche fehlen noch zur Stunde. So müssen wir gestehen, daß wir im Augenblick selbst das Wesen des natürlichen Schlafes nicht erklären können, um wie viel schwieriger muß darum die Deutung der krankhaften Erscheinungen desselben sein!

Wir möchten aber von der Erwähnung dieser Erklärungsweise nicht scheiden, ohne eines Begleiters des Schlafes, des Traumes, zu gedenken. Soweit es möglich war, Versuche anzustellen, ergeben sie, daß der Traum in einer falschen Auslegung von Sinneseindrücken besteht. Für das Träumen giebt es keine Regel, kein Gesetz. Unsere Auffassung dürfte einiges Licht in das Dunkel der Traumwelt werfen.

Das Gehirn ist die Centralstation des Körpers und es zerfällt selbst in eine Anzahl von Centren, welche gewisse Verrichtungen ausüben müssen. Von der richtigen Beschaffenheit dieser Centren hängt auch unser gesundes Denken ab. Es ist erwiesen, daß z. B. Erkrankungen einer Partie des Gehirns Störungen der Sprache hervorrufen. Die Ermüdungsstoffe betäuben sozusagen diese Centren, aber nach und nach werden die Ermüdungsstoffe im Schlafe ausgeschieden; nach und nach werden die Centren im Gehirne frei, aber nicht alle mit einem Schlage: das eine schlummert noch tief, das andere ist bereits erregt; so werden gewisse Reize wahrgenommen und in dem unvollständig arbeitenden Gehirn zu der wirren Traumerscheinung verarbeitet.

IV. Alpdrücken und Nachtwandeln.

Unter den Träumen, die uns in dem unvollkommenen Schlaf befallen, giebt es auch quälende, die bei häufiger Wiederkehr sogar einen krankhaften Zustand bilden. Schon in den ältesten medizinischen Schriften finden wir den „Alp“ erwähnt, jenen Traum, der von dem Gefühl des Erstickens begleitet ist. Der Aberglaube hat sich dieser oft wiederkehrenden Traumerscheinung bemächtigt und sie als das Werk eines Kobolds, eines Gespenstes gedeutet, das uns in der Nacht aufsucht. Die Hexenprozesse beweisen uns, daß dieser Aberglaube kein harmloser war, sondern Veranlassung zu dem Glauben an den Verkehr mit Teufeln etc. gab. Früher beschäftigten sich die Aerzte viel mit dem Alpdrücken. In dem 1833 erschienenen Werke von M. Strahl „Der Alp, sein Wesen und seine Handlung“ wird eine ganze Reihe von sonderbaren Träumen erzählt und in dem Litteraturverzeichniß werden gegen 150 Schriften über den Alp aufgeführt. Man warf auch in früheren Zeiten alle möglichen ähnlichen Erscheinungen in einen Topf zusammen und fand gerade in den krankhaften Träumen, im Nachtwandeln, in Ekstasen Hysterischer etc. ein Gebiet, auf dem die Phantasie sich nach Belieben austummeln konnte. Und doch war es nicht schwer, die Ursache des Alpdrückens durch Versuche festzustellen.

Der vom Alp Befallene träumt, daß er ersticke. Die Ursache dieses Gefühls ist eine außerordentlich verschiedene und hängt von dem Bildungsgrade des Träumenden ab. Vielen erscheint wirklich ein schwarzes Gespenst, ein Kobold oder Elf, und legt sich ihnen auf die Brust; andere sehen und fühlen, wie ein häßliches Thier, eine schwarze Katze oder ein zottiger Hund, sich auf ihre Herzgrube lagert; andere endlich haben nur die Vorstellung, daß ihr Athem stocke, ihr Herz stillzustehen drohe, und alle empfinden Qualen der Todesnoth. Ist aber die Beklemmung aufs höchste

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 402. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_402.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)