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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Wesens, die zu ihrer gewöhnlichen Spottlust in merkwürdigem Gegensatze stand. Fast noch zärtlicher als sonst schloß sie sich an Marie an, und ganz gegen ihre Gewohnheit, diese Zeit des Tages zu einer Spazierfahrt oder zu Besuchen bei bekannten und befreundeten Familien zu benutzen, richtete sie heute an ihre Base die gern erfüllte Bitte, ein Stündchen mit ihr zu musicieren.

„Willst Du singen?“ fragte Marie; aber Cilly schüttelte entschieden ablehnend das Köpfchen.

„Wir wollen vierhändig spielen, wenn es Dir recht ist. Ich fühle, daß ich heute gar keine Stimme haben würde.“

„Vielleicht die Ouvertüre zur ‚Diebischen Elster‘? – Das ist ja wohl Dein Lieblingsstück?“

„Nein – nein! – Etwas Ernstes – Getragenes – Schwermüthiges! Da – den Trauermarsch von Chopin! – Warum sollten wir nicht auch einmal Grabesmusik machen können?“

Eine solche Wahl sah den sonstigen Neigungen ihres lebensprühenden Bäschens allerdings so wenig ähnlich, daß ihr Marie mit einiger Ueberraschung in das ernsthafte Gesichtchen sah. Doch Cilly that, als ob sie diesen verwunderten Blick nicht bemerkte, und setzte sich mit einer gewissen Feierlichkeit auf ihrem Stuhl zurecht.

„Du bist doch damit einverstanden, daß ich den Baß nehme?“ sagte sie. „Diese schaurigen Todtenglockentöne sind ja gerade das Schönste an dem ganzen Stück.“

Ihre plötzliche Begeisterung für Chopins schwermuthsvolle und doch von so wundersamen Klängen himmlisch süßen Trostes durchzitterte Tondichtung hinderte das Töchterchen des Generals indessen nicht, einige Male empfindlich daneben zu greifen und mit den strengen Gesetzen des Taktes hier und da in merklichen Zwiespalt zu gerathen. Sie hatten kaum mehr als die Hälfte gespielt, als sie plötzlich die Hände von den Tasten sinken ließ.

„So traurig ist dieser Trauermarsch gewiß noch niemals zu Gehör gebracht worden,“ sagte sie, und ein Fünkchen von dem alten Uebermuth leuchtete schon wieder in den dunkeln Augen auf. „Wir sind ja nun nahezu eine Viertelmeile auseinander.“

„So laß uns noch einmal beginnen!“ schlug Marie vor. „Du mußt etwas besser zählen.“

„Zählen?! – O Du prosaische Künstlerin! – Diese Kirchhofsmusik sollte der natürliche Ausdruck meiner gegenwärtigen Stimmung sein, all mein Herzeleid wollte ich in sie ausströmen lassen, – und Du, Du verlangst von mir, ich solle zählen! Wahrhaftig, ich glaube, Du hast mir meinen ganzen, schönen Kummer verleidet!“

Und sie schlang beide Arme um den Hals der erstaunten Marie, schmiegte die Wange an ihr weiches, lichtblondes Haar und flüsterte ihr ins Ohr:

„In dieser Nacht habe ich ja meine erste und einzige Liebe im zarten Alter von kaum vier Monaten zu Grabe getragen!“

Trotz des traurigen Inhalts dieser vertraulichen Mittheilung und trotz ihrer eigenen Niedergeschlagenheit mußte Marie lächeln.

„Wirklich, Cilly? Und Du bist ganz sicher, daß sie nicht etwa nur scheintodt ist?“

„Nein, Theuerste, dazu ist keine Hoffnung! Sie ist ganz todt – mausetodt, – da hilft kein Jammern mehr und keine Reue. Wie ich den armen Prinzen gestern abgefertigt habe, bleibt ihm gar nichts anderes übrig, als sich innerhalb zweimal vierundzwanzig Stunden entweder eine Kugel vor den Kopf zu schießen oder sich bis über beide Ohren in ein anderes weibliches Wesen zu verlieben. Für mich aber ist das Ergebniß ja in beiden Fällen so ziemlich dasselbe.“

„Arme Cilly! – Aber man muß Dir das Zugeständniß machen, daß Du das Unvermeidliche mit Würde trägst.“

„Nicht wahr? – Alle unglücklich Liebenden könnten sich ein Beispiel an mir nehmen! Doch ich bitte mir aus, daß Du mich darum nicht für gefühllos hältst! Als ich heute morgen aufwachte, hatte ich da drinnen wirklich so eine unbestimmte Empfindung von gebrochenem Herzen, und wenn ich mich nicht vor Chériette geschämt hätte, würde ich ohne Zweifel sogar bittere Thränen vergossen haben. – Während des Frühstücks ist es dann allerdings langsam besser geworden.“

„Ein drolliges Heilmittel – in der That. Und weißt Du auch, meine liebe Cilly, daß ich unsern gestrigen Unfall jetzt als ein großes Glück für Dich ansehe?“

Mit halb verlegener und halb schelmischer Miene sah die Gefragte zu ihr auf.

„Wirklich? Etwa, weil er mir die Auszeichnung verschaffte, Deinen Herrn Bruder wieder zu sehen?“

„Nein, nicht deshalb! Aber er ist doch wohl die Veranlassung gewesen, daß Du – um mich Deiner eigenen Worte zu bedienen – in dieser Nacht Deine erste und einzige Liebe zu Grabe getragen hast?“

„Ja, – das heißt: ein wenig poetische Uebertreibuug mußt Du natürlich der gehobenen Stimmung zu gute halten! Wenn ich sage ‚meine erste Liebe‘, so rechne ich eben den Litteraturprofessor so wenig als den kleinen Fähnrich von Rochlitz, der mein erklärter Kavalier in der Tanzstunde war; und wenn ich sage ‚meine einzige‘, so will ich damit noch nicht gerade etwas verschworen haben.“

Sie sprach ganz eifrig, halb im Ernst, halb im Scherz, Marie aber zog die zierliche, geschmeidige Elfengestalt fester an sich und erwiderte herzlich:

„Nun wohl, Prinz Lamoral ist Dir in Wahrheit nicht mehr gewesen, als der Litteraturprofessor und der Fähnrich, über deren Anbetung Du Dich heute so leichten Sinnes lustig machst. Und doch würdest Du Dich vielleicht entschlossen haben, seine Gattin zu werden, wenn er sich vor dem häßlichen Ereigniß vom gestrigen Vormittag um Deine Hand beworben hätte. In Unkenntniß Deiner eigenen Empfindungen würdest Du Dich einem Mann zu eigen gegeben haben, dessen gesellschaftlicher Rang und dessen glänzende Erscheinung Dich vielleicht bestochen hatten, den Du aber sicherlich niemals geliebt hast.“

Die lustige Cilly schaute nachdenklich vor sich hin.

„Wie weise Du doch zu sprechen weißt, Mariechen! Und wahrscheinlich hast Du recht! Aber ich gebe Dir mein Wort, daß ich allen Ernstes glaubte, ihn zu lieben. Erst als sich mein Herzeleid heute während des Frühstücks so rasch verflüchtigte, und als ich mir mit meinem Chopinschen Trauermarsch und meinen falschen Griffen mit einem Mal so ungeheuerlich komisch vorkam, merkte ich, daß es doch wohl nichts Rechtes damit gewesen sei. Doch das ist eigentlich eine recht entmuthigende Erkenntniß. Woraus in aller Welt soll man denn nun in einem solchen Fall ersehen, ob es wirklich und wahrhaftig die echte, wahre, einzige Liebe ist? Man kann doch nicht immer eine so lebensgefährliche Probe darauf machen wie die, welche Prinz Lamoral so schlecht bestanden hat!“

„Die rechte Liebe bedarf solcher Proben nicht, Cilly! Wenn Dich nicht der bloße Gedanke, den Gegenstand Deiner Neigung für immer zu verlieren – ja, der Schatten einer Sorge, von ihm verkannt oder mißachtet zu werden, mit namenlosem, unaussprechlichem Weh erfüllt, wenn Du nicht mit tausend Freuden bereit bist, jedes, auch das schwerste Opfer zu bringen, nur um dies Aeußerste, Schmerzlichste von Dir abzuwenden, dann darfst Du sicher sein, daß es nicht Liebe war, was Du empfunden.“

„Nun, ich will mir’s merken – für den Fall, daß ich’s überhaupt noch einmal fertig bringen sollte, Wohlgefallen an einem Manne zu finden! – Doch genug von diesen schwermüthigen Geschichten! Jetzt spielen wir etwas Lustiges – das Lustigste, was wir haben!“

Marie willfahrte ihr auch diesmal; aber jetzt lag die Schuld an ihr, wenn sie mit ihrem Spiel nicht immer im Gleichklange blieben. Und nicht das im Grunde so harmlose Herzenserlebniß der Freundin war es, das ihre Gedanken hartnäckig von den Noten abzog, sondern der Klang ihrer eigenen Worte, die ihr im Ohre nachtönten, wie wenn sie aus einem fremden Munde gekommen wären.

„Der Schatten einer Sorge, von ihm verkannt oder mißachtet zu werden –“, wie in aller Welt hatte sich gerade diese Aeußerung auf ihre Lippen drängen können? Sie war ein halb unbewußter Ausfluß ihres innersten Empfindens gewesen, das unterlag keinem Zweifel, aber gerade deshalb wollte sie ihr selber nun um so erstaunlicher und fremdartiger erscheinen. Es gab ja nur einen einzigen Menschen, von dem sie fürchten mußte, daß er sie verkannt habe und sie verachte; aber jener Eine war nicht der Mann, den sie liebte, er war nicht einmal ihr Freund, sondern er war ihr ein beinahe Fremder, der sie abstieß, und den sie fürchtete, seitdem sie ihn so schnell entschlossen gesehen hatte, um der Wahrheit willen selbst seines eigenen Bruders nicht zu schonen.

Doch Cilly in ihrer plötzlich wieder erwachten Munterkeit und Lebhaftigkeit ließ ihrer Base nicht Zeit, sich dem Grübeln über das Räthsel, das ihre Brust bewegte, lange hinzugeben. Sie gab Marie nicht für eine Minute frei und wich auch nicht von ihrer Seite, als

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 395. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_395.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)