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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Halbheft 13.   1890.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Jahrgang 1890.      Erscheint in Halbheften à 25 Pf. alle 12–14 Tage, in Heften à 50 Pf. alle 3–4 Wochen vom 1. Januar bis 31. Dezember.


Madonna im Rosenhag.
Roman von Reinhold Ortmann.
(Fortsetzung.)


Marie fühlte, daß es nach der vorangegangenen Unterredung keine Brücke mehr gab über die Kluft, welche sie für immer von Lothar schied. Aber wenn er ihr Verhalten auch verdammen mußte, so sollte er sich wenigstens nicht in dem Glauben von ihr trennen, daß es ihr Wunsch gewesen sei, ihn geflissentlich zu beleidigen.

Als sie in dem leeren Speisesaal eine Weile stumm auf und nieder gegangen waren, sagte sie zaghaft:

„Vielleicht hast Du meiner letzten Aeußerung eine falsche Deutung gegeben, Lothar. Es war nicht meine Absicht, Dich zu kränken.“

„Was hätte Dich auch dazu veranlassen sollen?“ erwiderte er ruhig. „Sei versichert, daß ich Dir durchaus nicht zürne und daß ich vielmehr von ganzem Herzen wünsche, der Pfad, für welchen Du Dich am Kreuzwege entschieden hast, möge in Wahrheit der Pfad zum Glück gewesen sein.“

Eine heiße, unnennbar schmerzliche Empfindung, für deren Ursache sie selber sich keine Rechenschaft zu geben vermochte, drängte ihr die Thränen in die Augen. Sie mußte den Kopf ganz von ihm abwenden, um ihm ihre plötzliche Bewegung zu verbergen. Ihre Stimme aber klang vielleicht nur noch härter und fremder in dem Bemühen, eine gelassene Festigkeit zu erheucheln.

„Ich verstehe Dich nicht, wie es uns vielleicht überhaupt versagt ist, einander recht zu verstehen. Welcher Kreuzweg ist es, von dem Du sprichst, und welcher Pfad, für den ich mich entschieden haben soll?“

„Ich würde Gefahr laufen, Dich von neuem unwillig zu machen, wenn ich Dir darauf ausführlich Antwort gäbe; denn ich habe für die Ehrlichkeit meiner Gesinnung in diesem Augenblick eben keine besseren Beweise als bei allen früheren Gelegenheiten. Aber wie oft wir einander auch mißverstanden haben mögen, Marie – die Beweggründe, welche Dich hinderten, gegen Engelbert Partei zu ergreifen, sie wenigstens verstehe ich vollkommen, und Du siehst, daß ich sie geachtet habe trotz der Freundschaft, welche mich mit Deinem Bruder verbindet. Vielleicht hältst Du Dich nach dieser Erklärung ohne weiteres überzeugt, daß Deine vorige Anklage mich nicht zu kränken vermochte.“

Der ruhige Ton, in welchem er gesprochen, hatte ihr gewiß keinen Anlaß dazu gegeben, und doch empfand Marie seine Worte wie einen Ausdruck der bittersten Verachtung. Sie hatte sich vor ihm gedemüthigt, indem sie gewissermaßen seine Verzeihung erbeten hatte, und nun rächte er sich trotzdem an ihr, indem er sie unzweideutig fühlen ließ, daß er die unedlen, selbstsüchtigen Gründe ihres Benehmens mit voller Klarheit durchschaut habe. Und so jämmerlich eigensüchtig und feige erschienen ihr selber diese Gründe, daß davor der ganze bestrickende Zauber in nichts

Die schöne Geschichte. Von C. Stuchlik.
Photographie im Verlage der Photographischen Union in München.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 389. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_389.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)