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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

da diese einer Strafe gleich galt; denn nur der Sünder, dessen Seele nicht zur Gottheit, zu der Weltseele zurückkehren durfte, mußte noch einmal die Wanderung durch das Pflanzen- und Thierreich antreten. Der Eingang in Brahmas Schoß konnte aber nur durch den gänzlichen Sieg des Geistigen über die Materie, durch die Erstickung aller sinnlichen Triebe und Leidenschaften erworben werden. Darum wurden auch von den Brahmanen die härtesten Bußübungen erdacht, darum heißt es in ihren Lehren: „Wer einem Blinden gleich nicht sieht, einem Tauben gleich nicht hört, dem Holze gleich ohne Empfindung ist, von dem wisse, daß er die Ruhe erreicht hat.“ Die Askese der Inder gipfelte schließlich in dem religiösen Selbstmord; in den Fluthen des Ganges oder unter den Rädern des Götterwagens suchten die Frommen ihr Heil.

Patanjali erklärte nun diese strengen Bußübungen als thörichten Wahn und stellte die Lehre von der „Yoga“ auf. „Yoga“ bedeutet Vertiefung, Versenkung in das höchste Wesen durch die Kraft des Nachsinnens. Dieses mußte aber auf eine besondere Art ausgeführt werden. „Der sich der Vertiefung Widmende,“ schreibt Humboldt, „soll in einer menschenfernen reinen Gegend einen einsamen, nicht zu hohen und nicht zu niedrigen, mit Thierfellen und Opfergras bedeckten Sitz haben, Hals und Nacken unbewegt, den Körper im Gleichgewicht halten, den Odem hoch in das Haupt zurückziehen und gleichmäßig durch die Nasenlöcher aus- und einhauchen, nirgends umherblicken, seine Augen gegen die Mitte der Augenbrauen und die Spitze der Nase richten und den geheimnißvollen Namen der Gottheit ‚Om!‘ aussprechen.“

Dann kommt Ruhe über ihn; dann schwindet ihm das Bewußtsein und das Gefühl, und seine Seele kehrt zu Brahma zurück.

Unser Jahrhundert, welches in so vielen Besessenen früherer Zeiten Geistes- und Nervenkranke erkannte, versteht auch die Folgen der Yoga zu deuten. Diese Andachtsübung muß den Yogin in einen ähnlichen Zustand versetzen, in welchen so viele von uns verfallen, wenn sie einen blitzenden Knopf unverwandt ansehen, in den seltsamen Zustand, der nicht Wachen und nicht Schlaf ist, aber mit dem letzteren so viel Aehnlichkeit besitzt, daß er mit dem Namen „Hypnose“ (vom griechischen Worte Hypnos: der Schlaf) bezeichnet wird. Und in der That zeitigte die Yogalehre in Indien allerlei Blüthen des Hypnotismus, die selbst die Leistungen unserer nach Aufsehen ringenden Magier und Hypnotiseure übersteigen.

Im Dabistan, einem persischen Werke über die Religionssekten in Indien, heißt es an einer Stelle:

„Bei den Yogins findet man den Gebrauch, sich lebendig begraben zu lassen, wenn eine Krankheit sie befällt. Sie gewöhnen sich, mit offenen Augen den Blick starr auf die Mitte der Augenbrauen zu richten, bis ihnen die Gestalt eines Mannes erscheint; erscheint dieselbe ohne Hand, Fuß oder sonst ein Glied, so berechnen sie daraus, innerhalb wie vieler Jahre, Monate oder Tage ihr Leben zu Ende gehen werde. Sehen sie die Gestalt ohne Kopf, so wissen sie, daß ihnen nur noch ein sehr kurzes Leben beschieden ist, und dann lassen sie sich lebendig begraben.“

Dieses geschah nun in der Weise, daß die Büßer durch Unterdrückung der Athmung und Fixiren der Geistesthätigkeit sich in einen dem Winterschlaf der Thiere oder der kataleptischen Starre ähnlichen Zustand versetzten. Die fanatischen Yogins betreiben dies noch in unserer Zeit gewissermaßen als Gewerbe, indem sie sich gegen Belohnung zur Buße für andere lebendig begraben lassen, um nach einigen Tagen oder sogar Wochen wieder ausgegraben zu werden und ins Leben zurückzukehren. Diese Fälle, welche Braid zuerst gesammelt und zu deuten versucht hat, sind so bekannt, daß ein ausführliches Eingehen auf dieselben überflüssig erscheint. Sie lehren uns aber, daß der unnatürliche Schlaf schon in ältesten Zeiten den Menschen bekannt war, daß er ihnen Veranlassung zu Sagen- und Mythenbildung gab, daß er in den Dienst der Gottesandacht gestellt wurde, weil er wie alles Ungewöhnliche räthselhaft und darum überirdischen Ursprungs zu sein schien.

Während aber die Dichter den Stoff verarbeiteten und die Legenden in ein poetisches Gewand kleideten, wie dies noch Goethe in seinem West-östlichen Divan gethan hat, kam allmählich die Zeit, wo auch die Wissenschaft sich mit der Erscheinung des unnatürlichen Schlafes näher befassen sollte.


II. Berühmte Langschläfer.

Wer an die Möglichkeit eines ungewöhnlich langen Schlafes nicht glauben wollte, der mußte zu allen Zeiten durch die immer und immer wiederkehrenden Berichte von Fällen der Schlafsucht von seinem Zweifel geheilt werden. Die medizinische Literatur kennt eine ganze Anzahl solcher Fälle, von denen wir an dieser Stelle nur einige wiedergeben.

Einer der größten Schläfer war Samuel Chilton, gebürtig aus Tinsbury bei Bath. Er war Handarbeiter, 25 Jahre alt, nicht fett, aber muskulös; er hatte dunkelbraunes Haar. Im Jahre 1694 schlief er ein und verschlief einen ganzen Monat, dann wachte er auf und ging wie gewöhnlich an seine Arbeit; während seiner Schlafzeit nahm er von den Speisen, die man ihm ans Lager setzte, und hatte seine normalen Entleerungen, ohne jedoch zu erwachen. 1696 schlief er wieder ein und schlief diesmal 17 Wochen lang, und während der letzten 6 aß er gar nichts. Leider ist dabei nicht einmal die Gewichtsabnahme des Körpers festgestellt worden. Im Jahre 1697 schlief Samuel Chilton wieder, und der Schlaf dauerte diesmal 6 Monate; in dem Berichte von Dr. Oliver wird aber gar nichts davon erwähnt, wie es mit der Nahrungsaufnahme Chiltons bestellt war. Wir erfahren nur, daß man mit ihm allerlei ungewöhnliche und selbst grausame Versuche angestellt habe, um festzustellen, ob er wirklich keinen Schmerz empfinde oder nur ein Betrüger sei. Chilton gab keine Schmerzensäußerungen von sich und hatte nach dem Erwachen keine Erinnerung an die mit ihm vorgenommenen Proben.

Aehnliche Krankengeschichten hat auch Macnisch in seinem Buche „Der Schlaf in allen seinen Gestalten“ zusammengestellt. Er erzählt von einem Schlafsüchtigen, der 8 Tage lang keine Nahrung genoß, und von einem anderen, der 3 Wochen lang schlief und während dieser Zeit keinen Bissen Essen zu sich nahm, keinen Tropfen trank, der durch nichts auch nur für einen Augenblick erweckt werden konnte, während sein Schlaf ruhig und natürlich schien. Weiter wird noch ein polnischer Soldat erwähnt, der vor Schrecken erstarrte und 20 Tage lang ohne Nahrung blieb.

Dr. Jarrold behandelte einen 44jährigen Mann wegen eines Anfalls von kataleptischer Starre, die 8 Tage lang anhielt. Der Arzt hatte den Kranken aufgegeben, denn der Puls war kaum fühlbar und die Athemzüge, die sehr oberflächlich waren, traten in je 45 Sekunden ein. Nach acht Tagen erwachte aber der Mann, der bis dahin nichts genossen hatte, verlangte ein Beefsteak und genoß vor den Augen des Arztes eine reichliche Mahlzeit.

Es wäre jedoch müßig, eine Geschichte der berühmten Schläfer aus früheren Zeiten zusammenzustellen. Die Berichte sind sehr unzuverlässig; Fälle von Schlafsucht wechseln in ihnen ab mit Erzählungen von Scheintodten, langen Ohnmachtsanfällen u. dergl. Ja, es fehlt darunter selbst nicht ein europäischer Yogin, der sozusagen nach Belieben „sterben“ konnte, um wieder zu erwachen. Braid berichtet diesen seltsamen Fall mit folgenden Worten des Dubliner Arztes Dr. Cheyne:

„Oberst Townsend konnte nach Belieben sterben, d. h. aufhören zu athmen, und durch bloße Willensanstrengung oder sonstwie wieder ins Leben zurückkommen. Er drang so sehr in uns, den Versuch einmal anzusehen, daß wir schließlich nachgeben mußten. Alle drei fühlten wir erst den Puls; er war deutlich fühlbar, obwohl schwach und fadenförmig, und das Herz schlug normal. Er legte sich auf den Rücken zurecht und verharrte einige Zeit regungslos in dieser Lage. Dr. Baynard legte seine Hand auf das Herz des Obersten und Herr Skrine hielt ihm einen reinen Spiegel vor den Mund. Ich fand, daß die Spannung des Pulses allmählich abnahm, bis ich schließlich auch bei sorgfältigster Prüfung und bei vorsichtigstem Tasten keinen mehr fühlte. Dr. Baynard konnte nicht die geringste Herzzusammenziehung fühlen und Herr Skrine sah keine Spur von Athemzügen auf dem breiten Spiegel, den er vor den Mund des Daliegenden hielt. Dann untersuchte jeder von uns nacheinander Arm, Herz und Athem, konnte aber selbst bei der sorgfältigsten Untersuchung auch nicht das geringste Lebenszeichen an ihm finden. Wir besprachen lange, so gut wir es vermochten, diese überraschende Erscheinung. Als wir aber fanden, daß der Mann immer noch in demselben Zustande verharrte, schlossen wir, daß er doch den Versuch zu weit geführt habe, und waren schließlich überzeugt, daß er wirklich todt sei, und wollten ihn nun verlassen. So verging eine halbe Stunde. Gegen 9 Uhr früh, als wir

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 371. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_371.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)