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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

„Die Mazurka, die wir nachher tanzen werden, ist für mich der einzige Stern in der trostlosen Oede dieser Ballnacht. Ich freue mich auf sie wie auf eine Erlösung.“

„Aber ich habe sowohl Deinem Bruder wie einer ganzen Anzahl anderer Herren erklärt, daß ich heute nicht tanzen werde. Man könnte mir leicht verübeln, wenn ich es nun dennoch thäte.“

„Mag man doch! Glaubst Du, ich würde mich bereit finden lassen, auf mein gutes Recht zu verzichten? Ich würde Dich zu diesem Tanze holen, auch wenn ich wie Don Ramiro in der Heineschen Romanze nur noch meinen Schatten schicken könnte. Du kennst doch das schöne Gedicht mit den schauerlichen Schlußversen:

‚Herrin, forscht nicht blut’ge Kunde – heute mittag starb Ramiro!‘

Also bereite Dich immerhin auf eine kleine Nothlüge für die anderen vor! – Auf Wiedersehen, mein holdes Bäschen!“

Er schwirrte davon, fest überzeugt, sich sehr edel und großmüthig benommen zu haben. Der Regierungsrath aber war merklich überrascht von der Veränderung, die während seiner kurzen Abwesenheit in den Mienen und in dem Wesen seiner Nachbarin vor sich gegangen war.

„Hat man schon eine Spur gefunden, welche zur Entdeckung des merkwürdigen Diebstahls in der Gemäldegalerie führen könnte?“ fragte er im Verlaufe ihrer jetzt um vieles lebhafteren Unterhaltung. „Ich höre ja, daß der Assessor von Brenckendorf mit der Führung der Untersuchung betraut worden sei, und gnädiges Fräulein sind darum vielleicht besser unterrichtet als das große Publikum.“

Marie mußte mit einiger Beschämung gestehen, daß sie von einem solchen Diebstahl überhaupt noch kein Wort gehört habe, aber sie zeigte große Wißbegierde, etwas darüber zu erfahren, und der Regierungsrath erzählte bereitwillig, was ihm selber aus den Zeitungen bekannt geworden war.

„Aber ich bin ein schlechter Berichterstatter,“ unterbrach er sich plötzlich, „und der Herr Assessor, den ich da eben kommen sehe, wird uns gewiß Neueres und Zuverlässigeres zu melden wissen. Mit Ihrer Erlaubniß nehme ich ihn in Beschlag.“

Marie hätte vielleicht gern widersprochen, aber sie würde keinen Vorwand dazu gefunden haben, und so trat Lothar auf den heiteren Zuruf des Regierungsraths artig an ihren Tisch.

„Es giebt da wenig zu erzählen,“ sagte er, als er von dem Gegenstand der Unterhaltung in Kenntniß gesetzt worden war, „denn die Untersuchung bewegt sich bis zur Stunde noch völlig im Dunkeln. Soweit sich das eben feststellen läßt, ist das Bild bisher nirgends zum Kauf angeboten worden, und die Vermuthung gewinnt immer mehr an Boden, daß es sich gar nicht um einen Diebstahl aus gewöhnlicher Gewinnsucht, sondern um die That eines halb unzurechnungsfähigen Kunstliebhabers handle.“

Der Regierungsrath lächelte ungläubig.

„Sind Sie etwa ein Vertheidiger der Theorie von der Kleptomanie, der Stehlsucht, Herr Assessor?“ fragte er. „Ich für meine Person habe mich nie entschließen können, an das Vorhandensein einer so merkwürdigen Krankheit zu glauben.“

„Allerdings haben Sie hervorragende Männer der Wissenschaft auf Ihrer Seite,“ sagte Lothar. „Aber wer weiß, ob man nicht nach hundert Jahren mehr als die Hälfte jener Leute, die man nach dem heutigen Stande der Rechtspflege und der Wissenschaft nur ins Gefängniß schicken kann, in besonderen Heilanstalten behandeln wird!“

„Ein solches Zeitalter der reinen Menschlichkeit wird meiner Meinung nach schon um deswillen niemals kommen können, weil die gesittete menschliche Gesellschaft sich nicht des wirksamsten Vertheidigungsmittels gegen ihre Feinde entäußern darf. Mag ein Raubmörder mit klarem Verstande oder in zeitweiligem Wahnsinn gehandelt haben, jedenfalls ist es für die Gesellschaft eine unabweisliche Pflicht der Selbsterhaltung, ihn nicht nur dauernd unschädlich zu machen, sondern auch das zur Abschreckung leicht bereiter Nachahmer nothwendige warnende Beispiel an ihm aufzustellen. Mag der einzelne dadurch vielleicht auch hier und da härter betroffen werden, als er es verdiente, jedenfalls hat die Justiz ihre Aufgabe erfüllt, wenn ihr Spruch die Gesammtheit vor weiterem Schaden bewahrte. Die reine, vollendete Gerechtigkeit, die allezeit ein haarscharfes Gleichgewicht zwischen Schuld und Sühne herzustellen weiß, ist eben nichts als ein schöner Traum, der hier auf Erden auch nach weiteren zehntausend Jahren seiner Verwirklichung nicht viel näher gekommen sein wird als heute.“

„Ich vermag Ihnen nicht zuzustimmen, Herr Regierungsrath, und wenn ich es vermöchte, so würde ich mich sicherlich niemals zu einem Werkzeug solcher Justiz hergeben. Eine Gesellschaft, die sich zu ihrer Erhaltung lediglich auf eine nach dem Recht des Stärkeren zugeschnittene Handhabung ihrer Strafgesetze angewiesen sähe, würde der Erhaltung überhaupt kaum noch werth sein. Hat uns die Wissenschaft erst einmal dahin geführt, zu erkennen, wo die viel umstrittene Grenze zwischen Krankheit und Verbrechen liegt, so werden sich unsere Gesetze und die Urtheile unserer Richter unverzüglich dieser Erkenntniß anzubequemen haben. Einst schleppte man Pestkranke und Aussätzige an abgelegene Orte, um sie da ihrem Schicksal zu überlassen, denn man meinte, kein besseres Mittel zum Schutze der Gesammtheit gegen die Gefahr der Verseuchung zu besitzen. In menschlicheren Zeiten ersann man zu dem nämlichen Zwecke gute und schlechte Arzneien für die Unglücklichen, die von einer ansteckenden Krankheit ergriffen worden waren. Und heute – nun, heute ist man zu der Einsicht gekommen, daß das einzige wirksame Vertheidigungsmittel in dem Bemühen zu suchen ist, den Unheil bringenden Keimen, die vielleicht immer im Boden, im Wasser, in den Lüften schlummern, die Möglichkeit der Entwicklung zu nehmen. Man findet, daß es leichter sei, dem Ausbruch einer Seuche vorzubeugen, als die einmal ausgebrochene zu bekämpfen. Warum sollte man nicht in Bezug auf Verbrechen und Verbrecher nach gleichen Wandlungen der Ansichten zu demselben Endergebniß gelangen? Warum sollte man nicht auch hier das Hauptgewicht auf die Vorbeugemittel legen, wenn man nur erst mit Sicherheit die verderblichen Keime kennengelernt hat, die es zu tödten gilt?“

Mit einer Empfindung stetig wachsenden Erstaunens hatte Marie den – ausschließlich an den Regierungsrath gerichteten – Worten Lothars gelauscht. Sie erkannte den schweigsamen Vetter, der sich fast nie an den lustigen Tischgesprächen in seinem Elternhause betheiligte, kaum noch wieder, wie er da mit einer unverkennbar aus dem tiefsten Herzen quellenden Wärme seine idealistischen Anschauungen vertrat. Gleich seinen Eltern und seinen Geschwistern hatte ihr bis zu diesem Augenblick für Lothars Uebertritt in die richterliche Laufbahn jedes Verständniß gefehlt. Sie hatte sich daran gewöhnt, ihn im Stillen ebenso wie die anderen als eine eigensinnige Schrulle zu belächeln, – und jetzt erst dämmerte ihr unter der Wirkung seiner Worte eine Ahnung auf von den edlen und ernsten Beweggründen, welche die anscheinend so unbegreifliche Handlungsweise dieses verschlossenen Mannes bestimmt haben mochten. Und es stieg in ihrem Herzen auf wie ein sehnliches Verlangen, ihn so weiter sprechen zu hören und einen noch tieferen Einblick zu gewinnen in das Gedankenleben, das er selbst vor seinen nächsten Angehörigen sonst so ängstlich verborgen hielt. Sie wäre dem Regierungsrath aufrichtig dankbar gewesen, wenn er ihn durch weiteren Widerspruch gereizt oder einige von den hundert Fragen an ihn gerichtet hätte, die ihr selber auf der Seele brannten.

Aber ihr Kavalier konnte natürlich nichts von solchem Verlangen ahnen, und es war begreiflich, daß er sie vielmehr im Gegentheil durch solche akademische Erörterungen gelangweilt glaubte.

„Ich sehe wohl, mein lieber Herr von Brenckendorf,“ sagte er ablenkend, „daß wir in dem karg bemessenen Zeitraum einer Ballpause schwerlich zu einem Einvernehmen gelangen würden. Und wir sind ja auch ein wenig von unserem ursprünglichen Thema, dem Bilderdiebstahl im Museum nämlich, abgekommen. Ich muß gestehen, daß ich bei der ersten Kunde von dem Ereigniß aufrichtig verwundert war, wie etwas derartiges bei dem großen Aufsichtspersonal überhaupt hatte geschehen können.“

„Auch die größte Aufmerksamkeit und Gewissenhaftigkeit der Beamten wird das Vorkommen solcher Fälle niemals ganz ausschließen,“ erwiderte Lothar. „Ich für meine Person bin überzeugt, daß den bedauernswerthen Mann, in dessen Revier das winzige van Eycksche Gemälde hing, gar kein ernstlicher Vorwurf treffen kann. Da ihm die Beobachtung mehrerer Räume obliegt und da er sehr häufig von Besuchern mit Fragen in Anspruch genommen wird, wäre es unbillig, zu verlangen, daß er jeden einzelnen Punkt der ihm anvertrauten Räume beständig im Auge behalte. Und ein einziger unbewachter Augenblick war für den Dieb ja hinreichend, einen Gegenstand von so geringem Umfange unter seinem Ueberrock oder Mantel verschwinden zu lassen.“

„Und besitzt das Kunstwerk wirklich einen so bedeutenden Werth?“

„Die Museumsverwaltung hat es vor kurzem für zwölftausend Mark erstanden; aber es ist nach dem Urtheil Sachverständiger nicht zweifelhaft, daß mancher Liebhaber gerade für diese

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 362. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_362.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)