Seite:Die Gartenlaube (1890) 360.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

jämmerlicher Beschämung hinabgestürzt worden, daß er nicht nur die Fähigkeit zu sprechen, sondern auch die Herrschaft über seine aristokratischen Züge gänzlich eingebüßt zu haben schien. Niemals wenigstens war der Ausdruck seines Antlitzes eine zutreffendere Bestätigung für Engelberts Behauptung gewesen, daß die Prinzen von Waldburg das Pulver sicherlich nicht erfunden haben würden. Seine ohnehin etwas starren und wässerigen Augen irrten mit dem Verzweiflungsblick eines sterbenden Rehbocks von einem Ende des Saales zum anderen; er bewegte die Lippen, um einige ganz unverständliche Laute hervorzubringen, und er machte dann plötzlich, offenbar einer glücklichen unbewußten Eingebung folgend, der Tochter des Generals die tiefste, feierlichste und ehrfurchtsvollste seiner Verbeugungen.

Ohne auch nur nach rechts oder links zu blicken, schritt er nach diesem stummen Abschied quer durch den Festsaal einem den Ablegeräumen zunächst gelegenen Ausgange zu. Vielleicht geschah es ihm zum ersten Mal in seinem Leben, daß er die bitterste Unzufriedenheit gegen seine eigene erlauchte Person empfand.

Der Lieutenant von der Hacke aber, welcher sich achtungsvoll zurückgehalten hatte, so lange Cillys Gespräch mit dem Prinzen währte, glaubte die Unterhaltung mit dem Gegenstand seiner glühenden Verehrung jetzt kühnlich durch eine sehr geistreiche Schmeichelei einleiten zu dürfen, an welcher er während der letzten Viertelstunde in einer verschwiegenen Fensternische gearbeitet hatte. Doch er war noch nicht zu Ende gekommen, als ihn ein so kühl verwunderter und zugleich hoheitsvoll verweisender Blick aus den angebeteten dunkeln Augen traf, daß es sich ertödtend und erstarrend wie ein Reif in der Frühlingsnacht auf die zarten Blaublümelein seiner Hoffnungen und Träume legte. Eine kleine halbe Stunde später schlich er, von einer wahrhaft Schopenhauerischen Verachtung des gesammten weiblichen Geschlechts erfüllt, aus dem Speisesaal in einen jener kleinen gemüthlichen Nebenräume, wo man Cigarren, Münchener Hofbräu und eine Partie Skat oder Pikett haben konnte. Er war nicht im Zweifel, daß dies von den vielen unglücklichsten Abenden seines Lebens der allerunglücklichste sei, und während er das erste Seidel schäumenden Gerstensaftes aus bloßer Zerstreutheit ohne Athemholen bis auf den Boden leerte, sah er sich im Geiste nun doch noch unter afrikanischem Himmel im wilden Kampfe mit Negern, Arabern und Krokodilen. Es war unmöglich, mit dieser Wunde im Herzen Tag für Tag nur Griffe und langsamen Schritt üben zu lassen – es war unerträglich, unausdenkbar!

Und im Vorgefühl künftiger Heldenthaten trank der arme Verrathene in seinem stillen Schmollwinkel Glas auf Glas, bis ihm die Zukunft allgemach wieder in einem rosigeren Lichte aufdämmerte und eine sehr behagliche Stimmung gänzlicher Gleichgültigkeit gegen alles Vergangene und Gegenwärtige die letzten düsteren Schatten verzweifelter Lebensmüdigkeit verscheuchte. –

Marie von Brenckendorf hatte von der schnöden Behandlung, welche Cilly ihrem anfänglich so huldvoll ermuthigten jugendlichen Verehrer zu theil werden ließ, ebensowenig wahrgenommen als von der ernsthaften Auseinandersetzung ihrer Base mit dem Prinzen von Waldburg. Obwohl sie leidenschaftlich gern tanzte und obwohl die glänzendsten unter den jüngeren Kavalieren sich nach ihrem Erscheinen im großen Festsaal bei ihr um die Vergünstigung eines Tanzes beworben hatten, war sie doch standhaft bei der Erklärung geblieben, welche sie ihrem Vetter Lothar gegeben hatte. Es zuckte und prickelte ihr in den Füßen, wenn die verführerischen Weisen in feurigem Rhythmus den glänzenden Raum durchrauschten; aber sie widerstand der lockenden Versuchung in jenem trotzigen Eigensinn, welcher uns so häufig veranlaßt, zu dem Schmerz der Kränkung, die wir von anderen erlitten haben, auch noch die Pein unbarmherziger Selbstquälereien zu fügen.

Aeußerlich freilich verrieth sich nichts mehr von jener Bitterkeit und herben Enttäuschung, welche vorhin so übermächtig über sie gekommen waren. Ohne gerade ausgelassen und übermüthig zu sein, zeigte sie doch in dem Geplauder, in welches sie von ihrer Umgebung fortwährend hineingezogen wurde, Heiterkeit genug, um niemand errathen oder auch nur ahnen zu lassen, wie wenig fröhlich und festlich es in ihrem Herzen aussah. Es konnte ihrer Aufmerksamkeit unmöglich entgehen, daß Engelbert auch den Walzer mit der Gräfin Hainried tanzte und daß er somit ihr erklärter Kavalier für diesen Abend war. Ja, ein tückischer Zufall fügte es, daß die üppige, viel umschwärmte Schönheit ihren Platz während des Essens in geringer Entfernung von demjenigen Mariens wählte, und daß diese wider ihren Willen mehr als einmal zur Ohrenzeugin der oft recht verwegenen Artigkeiten werden mußte, mit denen Engelbert seiner Dame huldigte. An das Dasein seines Bäschens schien der Dragoneroffizier in dem Wirbel des rauschenden Festes überhaupt nicht mehr zu denken. Wiederholt streifte er ganz nahe an ihr vorüber, ohne sie zu sehen, und als sich ihre Blicke einmal zufällig begegneten, las Marie in seinen Augen nur den Rausch des Vergnügens über den raschen Erfolg, dessen er sich unverkennbar bei der Tochter des künftigen Kriegsministers zu erfreuen hatte.

Der Regierungsrath Thomas, ein feingebildeter und liebenswürdiger Herr in mittleren Jahren, hatte sich die Erlaubniß erbeten, Marie in den Speisesaal zu führen. Er bediente sie mit der Zuvorkommenheit und zarten Achtsamkeit eines wohlerzogenen Mannes, und Marie würde unter allen anderen Umständen an seiner lebhaften und gedankenreichen Unterhaltung sicherlich das aufrichtigste Vergnügen gefunden haben. Heute aber mußte sie sich mit dem ganzen Aufgebot ihrer starken Willenskraft zwingen, ihm nur so viel Aufmerksamkeit zuzuwenden, als die Pflicht der Höflichkeit von ihr forderte. Sie hatte unglücklicherweise den brennenden, stumm beredten Blick aufgefangen, mit welchem Engelbert der Gräfin Helene Hainried das erste Glas perlenden Champagners kredenzte, und wie gewaltig sich auch ihr Stolz gegen die demüthigende Vorstellung aufbäumte, daß es die schimpflichen Martern niedriger Eifersucht seien, welche in ihrem Innern wühlten, so wenig vermochte doch dieser Kampf zur Linderung der Pein beizutragen, welche sie seit jenem Augenblick erduldete.

Sie erschrak aufs heftigste, als sie gewahrte, daß Engelbert nach einer Weile seine Dame verließ und mit raschen Schritten geradeswegs auf ihren eigenen Platz zukam. Nur jetzt wollte sie nicht gezwungen sein, mit ihm zu sprechen – nur nicht unter dem unmittelbaren Eindruck einer Entdeckung, welche ihr sein Verhalten bei der vorigen Begegnung unter vier Augen nur noch im Lichte einer unerhörten Beschimpfung erscheinen lassen konnte.

Aber sie vermochte seine Annäherung so wenig zu vereiteln, als sie es hindern konnte, daß sich gerade in diesem Augenblick der Regierungsrath erhob, um sich an eines der Büffets zu begeben. Engelbert stand vor ihr, den gefüllten Champagnerkelch in der Hand, und während er ihr denselben mit leicht herabgeneigtem Oberkörper entgegenhielt, kam es in vorsichtig gedämpften Flüsterlauten von seinen Lippen:

„Auf Dein Wohl, mein Liebling! Ach, Du kannst nicht ahnen, was ich heute auszustehen habe. Lieber vierzehn Tage Felddienst als eine einzige Stunde vor dem Triumphwagen dieser Göttin! – Aber was ist das? Du thust mir nicht Bescheid? Bist Du mir etwa böse?“

Es war eine seltsame Kraft der Ueberredung in dem treuherzigen Klang seiner Stimme und in dem liebenswürdig heiteren Ausdruck seines frischen Gesichts. War es denn möglich, daß er die Stirn haben konnte, so vor sie hinzutreten, wenn er wirklich nur ein frevelhaftes Spiel mit ihr zu treiben gedachte? Langsam und zaudernd erhob Marie ihr Glas.

„Böse?“ wiederholte sie. „Nein – vielleicht nur ein wenig traurig.“

Engelbert warf einen raschen Blick hinter sich und nahm den leer gewordenen Stuhl des Regierungsraths ein.

„Aber Du sollst nicht traurig sein,“ flüsterte er warm und eindringlich, „und so weit es sich um mich handelt, hast Du auch keinen Grund dazu. Ich mußte mich heute nun einmal gewissen höheren Rücksichten zum Opfer bringen, und ich habe eine viel zu hohe Meinung von Dir, als daß ich glauben könnte, Du seiest eifersüchtig auf diese unbedeutende und kokette Person.“

Wie hätte sie ihm nun noch eingestehen können, daß sie wirklich eifersüchtig gewesen war! Sie war fast unzufrieden mit sich selbst, daß sie ihren Groll gar so schnell entschwinden fühlte, aber in der leichtfertigen Fröhlichkeit, mit welcher Engelbert über alle unangenehmen Dinge hinwegzutändeln wußte, lag nun einmal ein unwiderstehlicher Zauber. Und Engelbert las es ihr vom Gesicht ab, daß sie versöhnt sei.

„Noch einmal also: auf Dein Wohl, meine einzig geliebte Marie!“ hauchte er ihr ins Ohr. Die Krystallpokale klirrten zusammen, und er leerte den seinen bis auf den letzten Tropfen. Dann stand er rasch auf, nachdem er wieder einen hastigen Blick nach dem Tische der Gräfin Hainried hinübergeworfen hatte.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 360. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_360.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)