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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

der Wand befestigt war. Und obwohl ein einziger rascher Versuch hinreichend gewesen wäre, Hudetz zu dieser vernichtenden Erkenntniß zu bringen, setzte er doch sein unsinniges Bemühen minutenlang fort – kostbare, nie wieder einzubringende Minuten, innerhalb deren tausend Zufälligkeiten die für ihn eben noch so günstigen Umstände hätten in das Gegentheil verwandeln können.

Da schlug der Klang eines langsam näherkommenden Schrittes an sein Ohr, eines festen, männlichen Schrittes, der laut auf dem Parkettboden des hohen Saales hallte. Ohne Ueberlegung und ohne Besinnung, nur noch einem unwiderstehlichen blinden Antriebe gehorchend, streckte Hudetz seine Hände nach dem Madonnenbilde aus. Ein Druck – ein Heben – und es fiel ihm entgegen, so daß er nur mit Mühe durch rasches Zugreifen ein polterndes Niederfallen verhindern konnte. In der nächsten Sekunde war es unter dem fast bis zu den Hüften niederfallenden Kragen seines Mantels verschwunden, von dem linken, krampfhaft an den Körper gepreßten Arme festgehalten. Aber in der nämlichen Sekunde auch tauchte die breitschultrige Gestalt des Galeriedieners in der Thüröffnung auf, und sein Blick begegnete demjenigen des ehemaligen Studenten, der mit dem Trotz der Verzweiflung fest und gerade auf ihnn gerichtet war.

In dem Verlauf dieser furchtbaren Augenblicke lag die Entscheidung über sein Schicksal – das war der einzige Gedanke, in welchem sich das gesammte Geistesleben des Diebes zusammenschloß. Ein Zucken mit den Wimpern – eine hastige oder ungeschickte Bewegung konnte ihn verrathen – ganz abgesehen davon, daß selbst eine flüchtige Umschau in dem kleinen Raume dem Beamten das Fehlen des kostbaren Kleinods zum Bewußtsein bringen mußte.

Aber der Mann hegte offenbar nicht den geringsten Verdacht. Er gähnte hinter der vorgehaltenen Hand und ließ sich schwerfällig auf den Stuhl nieder, der wie gestern an der Schmalwand des Kabinetts aufgestellt war. Hudetz wagte wieder zu athmen; aber die Gefahr einer Entdeckung bestand unvermindert fort, so lange er das Dach dieses Hauses über seinem Haupte hatte. Nur nicht erwischen lassen – nur nicht erwischen lassen! summte es ihm unaufhörlich in den Ohren, und die Geister des Branntweins hatten noch Herrschaft genug in seinem Blute, um ihm die verwegene Dreistigkeit wiederzugeben, die seiner Natur sonst so fremd war, und die doch allein ein volles Gelingen seiner That möglich machen konnte.

Er blieb noch eine kleine Weile in dem Kabinett und ging dann ganz langsam – immer bemüht, seine Haltung so zwanglos als möglich erscheinen zu lassen – hart an dem Beamten vorüber in den Nebensaal, in welchenn sich jetzt sieben oder acht Besucher befinden mochten. Niemand achtete auf ihn – niemand außer der Malerin vor der „Auferweckung des Lazarus“, die ihn aufmerksam ansah und ihm mit den Blicken folgte, bis sich die geräuschlos zufallende Glasthür hinter ihm geschlossen hatte.

„Wie sonderbar das ist!“ dachte Hudetz. „Sie hat sich doch vorhin, als ich neben ihr stand, nicht im mindesten um mich gekümmert! Aber es ist unmöglich, daß sie etwas gesehen hat! Sie hätte sonst auf der Stelle Lärm geschlagen, das unterliegt gar keinem Zweifel!“

Dieser Selbstberuhigung ungeachtet fühlte er doch, wie seine Kniee zitterten, während er die Treppe hinabstieg. Auch begann ihm der Arm, unter welchen er das Bild geklemmt hatte, allgemach zu erlahmen; er hatte die Empfindung, als mußte die Tafel zu Boden gleiten, und es besserte nichts daran, daß er den Ellbogen mit Aufwendung seiner ganzen Muskelkraft an den Körper preßte.

In dem Skulpturensaal endlich wagte er seine Schritte zu beschleunigen, und schon hatte er mit der freien rechten Hand die Thür geöffnet, jenseit deren die Freiheit war und die Erlösung von dieser unnatürlichen Spannung, als ihn wie ein Messerstich der Klang einer Stimme durchzuckte, die hart hinter seinem Rücken rief: „He – Sie da! – Mein Herr! – Wollen Sie nicht die Freundlichkeit haben, auf einen Augenblick zurückzukommen?“

.Alles ist verloren!“ schrie es in ihm. Die Versuchung packte ihn, seinen Raub von sich zu werfen und in wilden Sprüngen die Treppe hinabzueilen, gleichviel wohin – am liebsten über das eiserne Geländer hinab in die Wellen des Flusses. Aber er kehrte nichtsdestoweniger in willenlosem Gehorsam um, das Bild an sich drückend und mit dem rechten Arme schlenkernd, als könnte er dadurch die steife Unbeweglichkeit des linken minder auffällig machen.

Einer von den Galeriedienern war es, der ihn gerufen hatte – derselbe, dessen zudringlich mißtrauischer Blick ihm vorhin so überaus belustigend erschienen war.

Er stand mit einem anderen Aufseher vor dem kleinen Verschlage, welcher zur Aufbewahrung der von den Besuchern abzugebenden Stöcke und Schirme dient. Auf seinem glatt rasirten, nichtssagenden Gesicht war ein Lächeln, welches Hudetz wie das höhnische Grinsen eines Teufels dünkte, der sich die Freude macht, noch ein wenig mit seinem unglücklichen Opfer zu spielen.

„Wollen Sie nicht gefälligst einmal nachsehen,“ fragte er, „ob Sie noch alles bei sich haben, was Sie vorhin mitbrachten. Es könnte doch wohl sein, daß Sie etwas verloren hätten.“

Hudetz rührte keinen Finger.

„Ich habe nichts verloren!“ erwiderte er, und seine Augen irrten umher, als wenn sie nach irgend einem unerhörten Rettungsmittel oder vielleicht auch nach einer Waffe zu Angriff oder Vertheidigung suchten.

„Na, wie können Sie das denn wissen, wenn Sie nicht einmal in Ihren Taschen nachfühlen,“ beharrte der Galeriediener in einem ziemlich unverschämten Tone. „Es ist doch wohl der Mühe werth, sich davon zu überzeugen.“

Es war kein Zweifel, man wollte ihn zwingen, sich selbst zu verrathen, denn er konnte den linken Arm ja nicht um einen Zoll bewegen, ohne daß das Bild zu Boden fiel. Aber gerade diese überflüssige Grausamkeit stachelte Hudetz’ verzweifelten Trotz.

„Ich habe nichts verloren!“ wiederholte er heftig. „Lassen Sie mich gehen!“

„Nun, nun, man wird Sie nicht zwingen, es anzunehmen. Aber ich muß gestehen, daß mir in meinem ganzen Leben etwas derartiges noch nicht vorgekommen ist. Es lag da auf der Erde – unmittelbar, nachdem Sie zur Thür hinaus waren, und ich könnte beschwören, daß es eine Minute früher noch nicht dagewesen ist. Es ist fast unmöglich, daß es ein anderer verloren habe.“

Die Zähne des ehemaligen Studenten schlugen hörbar auf einander; seine Gedanken fingen an, sich zu verwirren. Er fühlte, daß diese schreckliche Zwangslage ihn um seine Besinnung bringen müßte, wenn es ihm nicht gelänge, ihr auf der Stelle in der einen oder der anderen Weise ein Ende zu machen.

Wenn man nun in Wahrheit noch keinen Verdacht gegen ihn hatte? Es war fast unglaublich – aber gleichviel, in dem anderen Falle hatte er ja ohnedies nichts mehr zu wagen.

„So sagen Sie mir endlich, um was es sich handelt!“ fuhr er trotzig auf. „Ich bin nicht hier, um mich von Ihnen narren zu lassen.“

„Na, so zeig’s ihm doch!“ mahnte der andere Beamte seinen Genossen mit gedämpfter Stimme. „Er mag sich wahrscheinlich nicht dazu bekennen, weil so wenig darin ist.“

„Hier, mein Herr!“ sagte der erste mit komischer Feierlichkeit, indem er ein schmutziges, abgegriffenes Geldbeutelchen unter seinem Rock zum Vorschein brachte. „Gehört Ihnen dies oder gehört es Ihnen nicht?“

Auf den ersten Blick hatte Hudetz sein Eigenthum erkannt. Er zögerte noch mit der Antwort, aber seine Unentschlossenheit war nur von kurzer Dauer. Man muß jede Spur hinter sich vertilgen, raunte ihm eine innere Stimme zu, und wer weiß, ob nicht dies unscheinbare Ding eine solche Spur bedeuten würde.

„Ja, es gehört mir!“ sagte er entschlossen und streckte seine rechte Hand danach aus. Aber der Galeriediener, der eine unbezwingliche Neigung zu kleinen Späßen haben mußte, hielt seinen Fund noch zurück.

„Sachte, mein Lieber! Bei einem so verlockenden Anblick kann freilich jeder sagen: ‚Das gehört mir!‘ Wenn Sie wirklich der Eigenthümer sind, werden Sie mir ja auch angeben können, was darin ist – wie?“

Blitzschnell rechnete Hudetz nach, was er in dem Kaffeekeller verausgabt hatte.

„Zehn Pfennige!“ sagte er ohne jede Verlegenheit. „In zwei Fünfpfennigstücken.“

Der Spaßvogel lachte aus vollem Halse.

„Na ja, wenn Sie das so genau wissen, wollen wir von dem Pfandschein über eine silberne Spindeluhr mit Tombackkette und von dem Pferdebahnschein nach dem Weddingplatz nicht erst weiter reden. Hier, Herr Baron! Finderlohn wird nicht beansprucht. – Geben Sie es den Ar-, aber zum Teufel, was ist denn da los?“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 326. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_326.jpg&oldid=- (Version vom 26.12.2022)