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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

eisige Wind, der ihm entgegen blies, kühlte seine pochenden Schläfen nicht. Was vorhin nur wie eine ferne, unwahrscheinliche Möglichkeit in seinem Kopfe aufgedämmert war, hatte sich ihm jetzt zu unumstößlicher Gewißheit gesteigert: er war da drinnen erkannt worden – er wurde beargwohnt – und er durfte seine Besuche in der Bildergalerie nicht wiederholen, wenn er nicht die Gefahr der polizeilichen Ausweisung über sich heraufbeschwören wollte – diese Gefahr, vor der er heftiger zitterte als vor dem Gedanken an den Tod.

Die Thränen liefen ihm über die Wangen, ohne daß er es bemerkte, während er über das holperige Pflaster am Spreeufer dem Norden zustrebte. War es denn überhaupt der Mühe werth, weiter zu leben, wenn ihm auch diese letzte Daseinsfreude für immer entzogen wurde? That er nicht hundertmal besser, durch einen Sprung über das Eisengeländer der steilen Uferböschung all dem Jammer ein kurzes Ende zu bereiten? Wie sollte er seine Arbeit fertigstellen, wenn undurchdringliche Mauern ihn von dem Anblick der Werke trennten, über die er schrieb? – Und jetzt – gerade jetzt, wo er ein Kleinod gefunden hatte, das ihm bereits bei der ersten, kaum den Gesammteindruck erschöpfenden Betrachtung hundert neue Anregungen gegeben, hundert neue Ausblicke eröffnet hatte! – Ließ sich die Vorstellung ertragen, daß er es niemals – niemals wiedersehen sollte?

Mit keuchendem Athem und verwirrten Gedanken stieg er die Treppe zu seiner Wohnung empor. Die Wirthin stand am Herd und rührte in einem dampfenden, unangenehme Zwiebelgerüche ausströmenden Topfe. Mit ihrer starkknochigen, abgemagerten Gestalt, ihren harten Zügen und dem wirren grauen Haar legte sie den Vergleich mit den Bewohnerinnen einer Hexenküche nahe. Sie schenke dem Eintritt ihres Miethers anscheinend keine Beachtung, aber als er eben die Thür seiner Stube hinter sich schließen wollte, redete sie ihn an:

„Machen Sie sich darauf gefaßt, einen Besuch zu bekommen! Ich glaube, er wird Ihnen nicht angenehm sein, aber ich kann nichts dagegen thun.“

Welch eine neue Hiobspost war es, die da auf ihn wartete!

„Einen Besuch?“ wiederholte er, bemüht, seine Gedanken zu sammeln. „Wer könnte das sein?“

„Der Gerichtsvollzieher!“ sagte sie, gleichmüthig in ihrer Beschäftigung fortfahrend. „Es ist merkwürdig, was für eine Anhänglichkeit diese Art von Menschen für mich hat. Ich war noch nicht sechs Jahre alt, da nahm ein solcher Kerl – damals hieß er Exekutor – meiner Mutter das letzte anständige Kleid weg, das sie im Schranke hatte, und den Schrank dazu. Seitdem ist kein einziges Jahr vergangen, ohne daß ich die unselige Uniform nicht einmal oder ein paarmal hätte zur Thür hereinkommen sehen. Alle anderen können einen vergessen – der nicht, und wenn ich einmal kalt und todt da auf dem Lumpenbündel von Bett liege, wird noch der Gerichtsvollzieher kommen und meine Wohnung vergeblich nach einem pfändbaren Stücke durchstöbern.“

Sie hustete heftig und lange. Es war, als ob sie mit der Gefahr der Erstickung zu kämpfen habe; zum ersten Mal machte Hudetz die Wahrnehmung, daß sie seit dem Beginn ihrer Bekanntschaft um vieles hinfälliger geworden war. Aber es gab jetzt näher liegende Sorgen als diese. Der angekündigte Besuch mußte unter allen Umständen verhindert werden.

„Um was handelt es sich denn?“ fragte er. „Ist die Summe groß?“

„Für Rothschild nicht – für mich, ja! Es sind Steuern oder so was. Das bezahl’ ich nie! Was hab’ ich denn davon? Vielleicht, daß unter den Linden Asphaltpflaster gemacht wird und elektrisches Licht? Sie sollen einer armen alten Frau meinetwegen das Hemd vom Leibe nehmen, wenn sie’s verantworten können! Freiwillig aber – freiwillig geb’ ich nicht einen Pfennig!“

Hudetz strich sich das dunkle Haar aus der Stirn.

„Ich werde die Steuern für Sie bezahlen, Frau Haberland,“ sagte er mit einem leisen Seufzer. „Wir dürfen nicht erst den Gerichtsvollzieher kommen lassen.“

Es war ihr nicht der Mühe werth, auch nur den Kopf zu erheben.

„Da auf dem Tisch liegt der Mahnzettel,“ meinte sie, „bis heute abend muß es in Ordnung sein.“

Sie kostete von ihrer Suppe, um dann noch etwas Salz hinzuzufügen. Trotz des rauhen Gleichmuths, den sie an den Tag legte, war doch ein ausgeprägter Zug von Lebensmüdigkeit auf dem harten alten Gesicht mit dem fest zusammengepreßten, zahnlosen Munde.

Hudetz nahm den Zettel und las den darauf angegebenen Betrag. Derselbe war nicht eben groß, aber er überstieg die kleine Baarschaft, über welche der ehemalige Student noch verfügte, doch um ein Beträchtliches. Er war es ja gewöhnt, von der Hand in den Mund zu leben, und die Einkünfte waren in den letzten Tagen besonders spärlich geflossen, weil er sich mit vermehrtem Eifer seiner wissenschafllichen Arbeit hingegeben hatte.

„Es wird mir hoffentlich gelingen, das Geld noch rechtzeitig zu beschaffen,“ sagte er, den Zettel zusammenfaltend und sich zum Gehen wendend.

„Wollen Sie nicht zuvor etwas essen?“ rief ihm die Alte nach. „Brotsuppe mit Zwiebeln – ich setze sie Ihnen nicht auf die Rechnung.“

Aber er lehnte mit einigen Dankesworten ab. Nicht um den höchsten Lohn hätte er jetzt einen Bissen über die Lippen bringen können. Unten auf der Straße überlegte er eine Weile, was sich unternehmen ließe, um die fehlende Summe aufzubringen. Dann erinnerte er sich eines Weinhändlers, von dem er wiederholt kleinere Inseratenaufträge für verschiedene Berliner Zeitungen erhalten hatte. Er hatte bei dem Manne seit geraumer Zeit nicht mehr vorgesprochen; wenn er heute ein geneigtes Ohr bei ihm fand, mochte der auf ihn selbst entfallende Gewinnanteil wohl hinreichen, das dringende Bedürfniß des Augenblicks zu befriedigen.

Aber die Aussichten schienen nicht sehr günstig, denn als Hudetz das kleine Kontor betrat, fand er den Weinhändler, einen alten Herrn von dem würdevollen Aussehen eines biblischen Patriarchen, in sehr eifrigem Gespräch mit mehreren Besuchern.

„Was wünschen Sie denn schon wieder?“ klang es ihm wenig ermunternd entgegen. „Kommen Sie ein anderes Mal! – Oder meinetwegen mögen Sie auch warten, bis ich Zeit habe, mich mit Ihnen zu befassen!“

Ohne ein Wort zu erwidern, schlich sich Hudetz in eine Ecke des kleinen, überheizten und von Cigarrendampf erfüllten Raumes. Er war entschlossen, nicht eher von der Stelle zu gehen, als bis er seinen Zweck erreicht hatte. Die rückständigen Steuern seiner Wirthin mußten ja bezahlt werden um jeden Preis.

Die Unterhaltung, welche der Patriarch mit seinen Kunden führte, war von schier unendlicher Dauer, und als dieselben schließlich gegangen waren, hatte der Alte den stillen Besucher in der Ecke beim Ofen augenscheinlich vergessen. Er rechnete und schrieb, und das Kritzeln seiner Feder war lange Zeit das einzige Geräusch, welches die Stille der kleinen Arbeitsstube unterbrach.

Aber es war nicht nur Bescheidenheit, daß Hudetz noch immer schweigend und regungslos auf seinem Stuhle hockte. Seine Gedanken hatten sich längst weltenweit von dem Zwecke seines Hierseins entfernt, und auf der schmucklosen, mit einer unsäglich häßlichen Tapete beklebten Zimmerwand, die er unausgesetzt anstarrte, hob sich längst von dem tiefgrünen Hintergrunde blüthenbedeckter Rosenhecken die holdselige Gestalt der jungfräulichen Gottesmutter im lang niederfallenden, weißen Gewande ab, diese süßeste aller Madonnen, die er nie – nie mehr wiedersehen sollte!

Es war nicht gerade wunderbar, daß ihm das Bild mit fast all seinen Einzelheiten im Gedächtniß haften geblieben war; aber es war merkwürdig, daß ihn gerade in Bezug auf das Antlitz der Maria seine Erinnerung vollständig im Stiche ließ. Und je mehr er sein Gehirn zermarterte, um den verwischten Eindruck wieder herauf zu beschwören, desto hartnäckiger schob sich ein anderes, lichtblondes Köpfchen in den Rahmen des Phantasiegebildes ein, desto deutlicher trug die lichtumflossene Madonna im Rosenhag die lieblichen Züge jener vornehmen Flurnachbarin, deren entflohenes Vögelchen er einst mit Gefahr des eigenen Lebens vor den mordgierigen Krähen errettet hatte. Und er fühlte sich plötzlich ergriffen von einer Empfindung namenlosen, heißen, inbrünstigen Sehnens, von einem unklaren und doch allgewaltigen Verlangen, das jede Fiber seines Wesens erfaßte. Es drängte ihm die Thränen in die Augen und ließ ihn doch zugleich in der dunklen Vorahnung einer Glückseligkeit erschauern, der er keinen Namen zu geben wußte, obgleich es ihn unwiderstehlich trieb, sie mit dem Einsatz seines ganzen Daseins zu erringen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 298. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_298.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)