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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

gesehen, erklärlich zu machen, so hatten auch zielbewußt und geschickt jene Umsturzmänner sich vorbereitet, welche nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs am 4. September beim Wettbewerb um die Regierungsmacht zu kurz gekommen waren. Wie die Republikaner das Unglück von Sedan sich zunutze gemacht und für ihre Parteizwecke verwerthet hatten, so hatten sie mit der Uebergabe von Metz gethan: sie zogen am 31. Oktober vor das Stadthaus und verlangten die Einsetzung der revolütionären Kommune. Sie hatten nach der Niederlage von Buzenval am 22. Januar einen blutigen Putsch angezettelt und endlich nach der Uebergabe der Hauptstadt den „Centralausschuß der republikanischen Verbrüderung der Nationalgarde“ gebildet, um vor aller Augen sämmtliche ordnungsfeindlichen Kräfte um sich zu sammeln.

Aber wenn der Revolutions-Breughel auch alle diese Züge in seinem Gemälde vereinigt hätte, so würde ihm doch ein wesentlicher fehlen – über dem Beginne, der Dauer und dem jammervollen Ende dieses Aufstandes, über seiner Planlosigkeit, seinen Verirrungen, Ausschreitungen und Greuelthaten würde manches ungelöste Räthsel schweben, wenn nicht neben allen andern bestimmenden und bewegenden Kräften vorzugsweise auch die Schriftsteller der Kommune ins Auge gefaßt und nach ihrem eigenthümlichen Wirken gekennzeichnet würden.

Zwar die Erwartung erwies sich sehr bald als trügerisch, daß von dieser Seite die Kommune, die sich mit einem Male im Besitze der Gewalt sah, eine bestimmte Losung, eine sichere Richtung, geistigen und sittlichen Gehalt empfangen werde. Denn die nämliche Verwirrung und Gedankenarmuth, welche die neuen Gewalthaber im Stadthause von einer Begriffsbestimmung der Kommune zur andern taumeln ließ, herrschte auch unter den Schriftstellern, die damals die Stimmführer der öffentlichen Meinung sein sollten. Und außerdem war die Zahl derjenigen Schriftsteller äußerst gering, welche es überhaupt ehrlich mit der Kommune meinten und mit vollem Herzen zu derselben standen. Der ehrlichsten einer war jedenfalls jener G. Flourens, dessen Name seit Jahresfrist bei jedem Aufstande genannt worden war und der als das Urbild jener unter den Studenten des Lateinerviertels aufgewachsenen Volksbeglücker gelten kann, die alle Völker ohne weiteres als unterdrückte Brüder, alle Fürsten als Tyrannen, die ganze Politik lediglich als eine Sache des Pulvers und der Barrikaden betrachten. Flourens hatte die tollsten Abenteuer in Polen und bei dem Aufstande der Kreter gegen die Türken mitgemacht, von den dankbaren Athenern einen Ehrenrevolver zurückgebracht, und genoß jetzt unter dem vorstädtischen Volke von Paris das Ansehen eines Heilandes und Helden. Seine politische Zurechnungsfähigkeit aber konnte man nach einem soeben von ihm veröffentlichten Werk „Das freie Paris“ ermessen, wo er ganz unbefangen erzählte, er habe nach dem Beginne des deutsch-französischen Krieges den Plan gehabt, nach Griechenland zu reisen, Athen aufzuwiegeln, den dortigen König zu verjagen, die Kreter zu befreien, mit ihnen nach Marseille zu schiffen, Marseille gleichfalls aufzuwiegeln, mit dem ganzen Süden Frankreichs zum Entsatz von Paris zu eilen, die Arbeiter von Berlin, Wien und London zum Barrikadenbau, die Spanier zur Vertreibung Prims, Garibaldi zur Besetzung Roms aufzufordern, die Preußen über den Rhein hinüber der Revolution im eigenen Land in den Rachen zu jagen und in Paris endlich die Verräther Trochu, Bazaine und Ducrot abzusetzen! So unsinnig dies ist, Flourens war der Mann, daran zu glauben. Und was kümmerte er sich jetzt darum, daß man sich im Stadthause den Kopf über unmögliche Aufgaben zerbrach? „Rache“ war die einfache Losung, die er ausgab, „Rache an den Verräthern, die das Volk an einen neuen Monarchen verkaufen wollen“! Damit zog er am 3. April zum Kampfe gegen Versailles aus und fiel, tapfer fechtend, an der Spitze seiner Legion.

In demselben Gefechte wurde von den Versaillern ein Mann gefangen genommen, der ein ebenso begeisterter Volksfreund wie Flourens, aber in allem übrigen dessen ausgesprochenes Widerspiel war: Elisée Reclus, damals schon bekannt durch treffliche Reisebücher, heute anerkannt als der bedeutendste Geograph Frankreichs. Eine Natur von idealer Reinheit, hatte er aus lauterster Menschenliebe schon in der Mitte der sechziger Jahre sich ganz der sittlichen und geistigen Hebung des Arbeiterstandes und insbesondere der Einführung des Genossenschaftswesens gewidmet, von dem man damals alles Heil erwartete; und ich hatte ihn wie seinen gleichgesinnten Bruder Elie, der erst kürzlich wieder ein sehr lehrreiches Werk über „Die Urmenschen“ herausgegeben, in so mancher Arbeiterversammlung unter dem Kaiserreiche getroffen und schätzen gelernt. Enttäuschungen mancherlei Art, namentlich auch die Wahrnehmung, daß frühere politische Freunde wie Picard und Simon ihren schönsten Worten niemals Thaten folgen ließen, hatten diese beiden edlen Schwärmer den Umsturzmännern immer näher gerückt. Beiden schien nun mit dem 10. März das Morgenroth einer neuen Weltordnung zu leuchten; und als das Zeichen zu jenem unglücklichen Ausfalle nach Versailles gegeben wurde, hielt es der schwächliche und kurzsichtige Elisée, der nie ein Gewehr getragen hatte, wie sein Bruder Elie für Pflicht, mitzumarschiren. Wie durch ein Wunder dem Tod entronnen, aber durch die grausame Behandlung während der Ueberbringung nach den Gefängnißschiffen in Brest dem Wahnsinn nahe gebracht, hatte er sich kaum wieder etwas erholt, als er sich neuerdings ganz und gar der Aufrichtung und Belehrung seiner Mitgefangenen widmete. Das Anerbieten der Gnade seitens der Regierung, wenn er verspreche, nicht mehr die Waffen gegen dieselbe zu tragen, wies er stolz zurück; und es blieb der französischen Akademie vorbehalten, später dem berühmten Schriftsteller und Gelehrten die Erlaubniß zur Rückkehr in die Heimath zu erwirken. Vielleicht fühlte sich Elie durch das Schicksal dieses seines Bruders nun doppelt verpflichtet, bei der Kommune auszuharren.

Im übrigen wollte er es, nachdem diese schon anderthalb Monate geherrscht hatte, mir gegenüber nicht Wort haben, daß nicht alles ganz gut gehe. Er billigte es sogar vollständig, daß er selbst und seine Freunde aus dem Bürgerstande von allen höheren Aemtern ausgeschlossen seien, und er fand auch die Verwaltung unter den unerfahrenen Neulingen gar nicht so übel. Meinem Einwand aber, daß die Kommune ja keine einzige der von ihr angekündigten sozialen Reformen ernstlich ausführe, begegnete er mit dem Hinweis auf die Nothwendigkeit, alle Kraft jetzt nur dem Kampfe zuzuwenden.

Das letzte Mal sah ich ihn bei der Zerstörung der Vendômesäule. Ich konnte mich nicht enthalten, ihn zu fragen, ob er als Mann der Wissenschaft und Freund der Geschichte und der Künste auch eine solche Zerstörungswuth gegen vaterländische Denkmäler billigen könne. „Allerdings,“ erwiderte mir der unverbesserliche Schwärmer, „denn das schönste Denkmal für unser Volk bleibt doch die Erklärung des Amtsblattes der Kommune, ‚daß wir fortan geschieden sind vom Militarismus, dieser blutigen Verleugnung aller Menschenrechte, und daß es eine Pflicht gewesen ist, dieses Sinnbild des Despotismus zu vernichten.‘“ Uebrigens konnte Elie Reclus der Wissenschaft noch unschätzbare Dienste leisten, da er, zum Vorstand der weltberühmten Nationalbibliothek ernannt, den unverschämten Diebstählen, die mit dem Beginne der Kommune dort begangen wurden, ein Ende machte und schließlich die ihm anvertrauten Schätze mit Lebensgefahr vor den Brandstiftern der Kommune rettete. So erfüllte es mich denn mit großer Freude, als mir noch während des Brandes von Paris die Gewißheit wurde, daß es einigen Freunden gelungen sei, Elie Reclus an einem sicheren Orte vor der Erschießung oder Gefangenschaft zu bewahren.

Ein wahrhaft tragisches Geschick vollzog sich dagegen an dem Schriftsteller August Vermorel, dem einzigen sozialistischen Denker, den die Kommune unter den Ihrigen zählte. Vermorel war wie die beiden Reclus immerdar ein echter Freund der Freiheit und unerschrockener Anwalt des Volksrechtes, aber zum Unterschiede von jenen beiden sanften Gelehrtennaturen stets ein Mann rücksichtslosen Kampfes gewesen. Nachdem er bis zur zweiten Hälfte der sechziger Jahre als Mitarbeiter der „Presse“, „Liberté“ und des „Courrier Français“ in den ersten Reihen der Gegner des Kaiserreichs gekämpft und sich zahlreiche Gefängnißstrafen und den Verlust seines Vermögens zugezogen hatte, wurde er von Rochefort einmal in offener Sitzung des Gesetzgebenden Körpers als „Spion des Kaiserreichs“ verleumdet, bloß weil er in mehreren Flugschriften dessen damalige Parteigenossen Picard, Simon und Favre als falsche Volksfreunde zu entlarven versucht hatte. Am 4. September vom Volk aus dem Gefängniß befreit, besann sich Vermorel keinen Augenblick, diese Herren, die er jetzt als Regierende vorfinden mußte, mit erneuter Heftigkeit anzugreifen, und dieselben wußten sich seiner nicht anders zu entledigen, als indem sie ihn

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 271. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_271.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)