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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Ansprüchen an das Leben ich vor allem anderen die gebührende Berücksichtigung zutheil werden lassen muß.“

„Hum! – Ja – ganz recht! – Ein allerliebster kleiner Blondkopf! – Ich erinnere mich ihrer sehr gut! Sie muß etwa in dem Alter meiner Tochter Cäcilie sein.“

„Neunzehn Jahre – und mit siebzehn Jahren hat sie sich bereits auf die eigenen Füßchen gestellt. Sie mußte es wohl, denn ich hatte ja selbst noch um meine Stellung in der Welt zu kämpfen, und es war niemand da, der ihr für das verlorene Vaterhaus einen Ersatz geboten hätte.“

Er sprach ohne alle Anzüglichkeit; aber der General hatte doch Mühe, seine Verlegenheit zu verbergen.

„Ah – was Sie sagen, lieber Wolfgangl Ich glaubte die Kleine natürlich wohl aufgehoben und gut versorgt. Wenn es so stand, warum in aller Welt hat sie sich denn niemals an mich gewendet?“

„Gestatten Sie mir, als Erwiderung darauf ihre eigenen Worte anzuführen! Auch ich richtete gestern eine ähnliche Frage an sie, und sie antwortete mir etwa: ‚Die Verwandten sind reich und ich bin arm! Ihre Sache war es darum, mich zu suchen, nicht die meinige, mich ihnen aufzudrängen‘.“

Diese freimüthige Auskunft konnte den General nicht sehr angenehm berührt haben; aber er war eben ein Mann von ausgezeichneter Erziehung.

„Meine kleine Nichte ist, wie es scheint, eine sehr charaktervolle junge Dame. Und sie hat recht, vollkommen recht. Ich werde mich beeilen müssen, ihre Vergebung zu erlangen. Das Suchen aber, lieber Wolfgang, werden Sie mir wohl ersparen!“

„Meine Schwester ist seit zwei Jahren in Berlin! Unter der feierlichen Versicherung, daß sie keine Noth zu leiden habe, verbat sie sich stets aufs nachdrücklichste jede Geldunterstützung, die ich ihr anbot, und ich konnte mich gestern durch den Augenschein überzeugen, daß sie mich nicht belogen hat. Sie leidet wirklich keine Noth, denn sie bemalt Photographien und Ballfächer für irgend ein hiesiges Geschäft.“

Der General rückte unbehaglich auf seinem Stuhl; der junge Zahnarzt aber fuhr in seiner leichten, gelassenen Weise fort:

„Daß mir eine Fortsetzung dieser ersprießlichen Thätigkeit indessen nicht erwünscht sein kann, ist wohl begreiflich! Ihre Jugend, ihre Erziehung und ihre Herkunft geben meiner Schwester ein Recht darauf, sich in der Gesellschaft zu bewegen und die Annehmlichkeiten des Daseins zu kosten. Wenn ich sie jetzt in mein Haus aufnehme, wie es doch das Nächstliegende und Natürlichste ist, so kann ich mein Adelsprädikat nicht ablegen, ohne Marie zu gleichem Verzicht zu zwingen, und ich sehe wahrhaftig keinen ausreichenden Grund, ihr ein solches Opfer zuzumuthen. Das ist es, lieber Onkel, was ich unter den Rücksichten auf meine Familie verstehe.“

„Sehr ehrenwerth und sehr brüderlich! – Aber – aber sollte sich da nicht dennoch irgend ein annehmbarer Ausweg finden lassen?“

„Ein Ausweg – ich wüßte nicht –“

„Nun, in dem Hause eines Junggesellen – und Sie sind doch unverheirathet? – ist am Ende kaum der rechte Platz für eine junge Dame. Sie bedarf des Anschlusses an eine Familie, der mütterlichen Fürsorge und Leitung. Bei der aufrichtigen Freundschaft, die mich mit meinem wackeren Vetter verband, ist es fast selbstverständlich, daß ich mit Freuden bereit bin, ihr im Kreise der Meinen ein solches Heim zu bieten. Wenn sie selber einverstanden ist, soll sie mir als liebe Hausgenossin hoch willkommen sein, und ich glaube fast, sie wird unter unserem Schutze rascher den gebührenden Platz in der Gesellschaft erhalten als unter dem Ihrigen. Muß ich Sie versichern, daß ich mit solchem Erbieten nicht bis zu dieser Stunde gewartet haben würde, wenn ich von der Lage der Dinge auch nur die leiseste Ahnung gehabt hätte?“

Der blonde Vollbart verbarg dem General das feine Lächeln, das für einen Augenblick um die Lippen des jungen Mannes zuckte.

„Ich bin aufs freudigste überrascht von einem so großmüthigen Beweis Ihrer verwandtschaftlichen Gefühle, lieber Onkel, und ich zweifle nicht, daß Marie diese Empfindung theilen wird. Aber ich vermuthe fast, daß Sie geneigt sind, mir eine Bedingung zu stellen.“

„Wenn es Ihnen gefällt, meiner Bitte diesen Namen zu geben – ja! Die gesellschaftlichen Beziehungen, welche mit meinem militärischen Range nothwendig verknüpft sind, legen mir, gegen meinen Willen, gewisse Rücksichten auf, und –“

„Und es verträgt sich nicht mit diesen Rücksichten, daß jeder Hoflakai sich bei einem Ihrer Verwandten künstliche Zähne machen lassen könne, vorausgesetzt, daß er imstande sei, sie zu bezahlen. Nun, ich bemerkte bereits, daß ich nur um meiner Schwester willen der Freiherr zu bleiben wünschte. Willigt Marie ein, sich unter Ihren Schutz zu stellen, so braucht meinetwegen niemand zu erfahren, daß der Zahnarzt Brenckendorf ein Neffe Seiner Excellenz des kommandierenden Generals von Brenckendorf sei. Ich würde alsdann, wenn auch natürlich mit schwerem Herzen, sogar auf das Vergnügen verzichten, Ihrer freundlichen Einladung zu häufigem Besuch Folge zu leisten, und ich würde mir nur die Ausstattung meiner Schwester mit einem angemessenen Taschengelde vorbehalten.“

Er hatte sehr ruhig und leichthin gesprochen; es war auch nicht das geringste Anzeichen des Gekränktseins in seinem Benehmen. Bei den letzten Worten war er aufgestanden, und auch der General erhob sich, um ihm mit unverkennbarer Erleichterung die Hand zu schütteln.

„Wir armen Menschen sind eben jederzeit die Sklaven der Verhältnisse,“ sagte er, „und dem bescheidensten Bürgersmann mag es leichter fallen, sich zu ihrem Herrn zu machen als uns! – Sie werden also die Güte haben, mir die Adresse Ihrer Schwester zu geben und sie in geeigneter Weise auf meinen baldigen Besuch vorzubereiten. Alles weitere muß sich dann fügen, wie die Umstände es eben gestatten. Nur wäre es vielleicht von allseitigem Vortheil, wenn meine kleine Nichte in Ihrem so lobenswerthen Entschlusse nicht gerade das Ergebniß eines zwischen uns getroffenen Abkommens erblickte. Sie verstehen mich wohl, lieber Wolfgang?“

„Vollkommen! – Und ich bin ganz Ihrer Ansicht; denn es unterliegt nicht dem mindesten Zweifel, daß sie Ihre Güte unbedenklich ablehnen würde, wenn sie von dem Inhalt unseres Gespräches Kenntniß erhielte.“

Der General mochte finden, daß das etwas grob sei; aber wenn ihm eine Erwiderung auf der Zunge gelegen hatte, so schluckte er sie doch unausgesprochen hinunter. Er machte Miene, seinen Besucher hinaus zu geleiten; aber sie hatten die Thür noch nicht erreicht, als dieselbe ziemlich ungestüm von außen geöffnet wurde, um Cillys zierliche und behende Gestalt hereinschlüpfen zu lassen. Sie hatte ein allerliebstes Plüschjäckchen von sehr lebhafter blauer Farbe, das mit dem Fell des Silberfuchses besetzt war, angelegt, und ein dazu passendes Barett saß keck auf dem dunklen, kurzlockigen Köpfchen.

„Du sollst Schiedsrichter sein, Papa! Dieser unartige Dragoner, der doch selber so blau ist wie ein wandelnder Vergißmeinnichtstrauß, behauptet, die blaue Farbe stände mir entsetzlich zu Gesicht. – Ach, Verzeihungl Ich habe nicht gesehen, daß Du Besuch hast!“

In lebhafter Verwirrung wollte sie sich zurückziehen; doch Wolfgang verhinderte sie daran, indem er lächelnd sagte:

„Wer auch immer der ungalante Dragoner sein mag, liebe Cousine – ich behaupte auf jede Gefahr hin, daß er zum Schönheitsrichter gänzlich untauglich ist.“

Die junge Dame machte große Augen; der General aber der seinen Verdruß über den kleinen Zwischenfall bei aller Selbstbeherrschung nur unvollkommen zu verbergen vermochte, sagte vorstellend:

„Wolfgang von Brenckendorf – Du erinnerst Dich wohl! – Meine Tochter haben Sie ja, wie ich sehe, bereits erkannt!“

Cilly betrachtete den Vetter, der so unerwartet ins Haus geschneit war, mit einem neugierigen Blick.

„Natürlich erinnere ich mich. Er hat mich ja einmal zwei Stunden lang in die Speisekammer eingesperrt, weil ich seine Schwester Marie gekratzt haben sollte. Als mich die Tante befreite, hatte ich aus Rache einen ganzen Topf voll eingemachter Kirschen leer gegessen und war dann zwei Tage sterbenskrank. Solche Ereignisse vergißt man niemals! Aber erkannt hätte ich ihn freilich nicht!“

Vielleicht erschien dem General die Auffrischung dieser Erinnerungen aus der Kinderzeit als eine nicht ganz angemessene Vertraulichkeit, denn noch ehe Wolfgang eine Antwort geben konnte, beeilte er sich, einzuwerfen:

„Unser junger Verwandter ist vor einigen Tagen aus Amerika zurückgekehrt, weil er die Absicht hat, sich in Berlin als Zahnarzt niederzulassen.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 262. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_262.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)